Bis hierher wurde fast ausschließlich das fiktive Kapital in Form der Aktien behandelt. Dies mag der wichtigste und interessanteste Teil sein, doch fiktives Kapital tritt keineswegs nur in Form der börsengehandelten Aktie auf. Daher sollen hier weitere Formen fiktiven Kapitals und Sonderformen fiktiven Kapitals bei Aktien dargestellt werden:
Staatsschulden sind grundsätzlich fiktives Kapital und machen so einen Großteil des gesamten fiktiven Kapitals aus. Marx schreibt in diesem Zusammenhang über die Staatsschuld:
„Der Gläubiger kann hier [...] nur die Forderung, seinen Besitztitel darüber, verkaufen. Das Kapital selbst ist aufgegessen, verausgabt vom Staat. Es existiert nicht mehr. Was der Staatsgläubiger besitzt, ist 1. ein Schuldschein auf den Staat, sage von 100 Pfd.St.; 2. gibt dieser Schuldschein ihm den Anspruch auf die jährlichen Staatseinnahmen, d.h. das jährliche Produkt der Steuern, für einen gewissen Betrag, sage 5 Pfd.St. oder 5%; 3. kann er diesen Schuldschein von 100 Pfd.St. beliebig an andre Personen verkaufen. [...] Aber in allen diesen Fällen bleibt das Kapital, als dessen Abkömmling (Zins) die Staatszahlung betrachtet wird, illusorisch, fiktives Kapital. Nicht nur, dass die Summe, die dem Staat geliehen wurde, überhaupt nicht mehr existiert. Sie war überhaupt nie bestimmt, als Kapital verausgabt, angelegt zu werden, und nur durch ihre Anlage als Kapital hätte sie in einen sich erhaltenden Wert verwandelt werden können.“[1] und: „In diesen Tatsachen, dass sogar eine Akkumulation von Schulden als Akkumulation von Kapital erscheinen kann, zeigt sich die Vollendung der Verdrehung, die im Kreditsystem stattfindet.“[2]
Die Staatsschuld der BRD beträgt mehr als DM 2 Billionen. Die Gesamtsumme ist etwa so hoch wie die Gesamtsumme aller Aktien der 30 AGs des DAX® auf dem Höchsstand dieses Aktienindex im Jahr 2000[3] . Auch die Staatsschuld wird in Form von Wertpapieren an der Börse gehandelt, damit werden Forderungen gegen den Staat gekauft und verkauft. Fiktives Kapital ist eben nicht nur Aktienspekulation, fiktives Kapital findet sich in der angeblich grundsoliden Einrichtung von Staatsanleihen der BRD (und anderer Länder). Auch hier wird mit der Zukunftserwartung spekuliert, nämlich der Erwartung, dass die Zinsen aus ausreichenden Steuereinnahmen gezahlt werden. Damit wird auch noch einmal klar: Fiktives Kapital ist kein Luftgebilde. Die Zinszahlungen des Staates sind der größte Ausgabeposten, das fiktive Kapital als Staatsschuld wird so ein Instrument einer riesigen Umverteilung und damit Ausbeutung (Steuerzahlung -> ans Finanzamt -> an Gläubiger der Staatsschuld).
Nicht alle gehandelten Firmen haben die Form der AG und schon garnicht nicht alle AGs werden an der Börse gehandelt. Dennoch werden dauernd GmbHs, KGs usw. verkauft, übernommen oder verschmolzen. Auch hierbei wird in den allermeisten Fällen ein Kaufpreis gezahlt, der höher ist als das in der verkauften Firma real angewandte Kapital. Ein solches Geschäft hat dann auch beinhaltet dann auch fiktives Kapital.
Diese Finanzkonstruktionen und sonstigen Verrücktheiten des Kapitalismus werden üblicherweise zuerst genannt, wenn es um fiktives Kapital oder „Casino-Kapitalismus“ geht. Sie sind komplett dem fiktiven Kapital zuzurechnen, da sie lediglich Anrechte auf (in der Regel) Geldbeträge bei Eintritt eines gewissen Ereignisses darstellen. Eine reale Anwendung des gegebenen Kapitals ist nicht denkbar. Gleichfalls können Derivate auch der Absicherung von Risiken dienen (ähnlich einer Versicherung), wobei die Nutzung dieser Seite in der Praxis bei den an der Börse gehandelten Derivaten aber die Ausnahme sein dürfte.
Derivaten wird oftmals zugeschrieben, sie seien die eigentliche Spekulation an den Börsen, dem gegenüber Aktien oder Staatsschulden „solide Sachwerte“ darstellen. Das ist in dieser Hinsicht unzutreffend, obwohl Derivate üblicherweise höhere Chancen und Risiken auf Gewinn, bzw. Verlust bedeuten und ihre Entwicklung einige Neuerungen brachte (so kann man mit Derivaten bespielsweise an fallenden Kursen gewinnen). Doch Derivate sind gegenüber dem fiktiven Kapital in Aktien oder Staatswertpapieren keine qualitative Neuerung, keine qualitative Veränderung des fiktiven Kapitals. Es ist auch nach mittlerweile mehr als einem Jahrzehnt Erfahrung mit verstärkter Verbreitung von Derivaten in keinster Weise erkennbar, dass diese den Kapitalismus insgesamt (oder auch „nur“ den Börsenhandel) in seiner derzeitigen Stabilität gefährden würden.
Fiktives Kapital besteht also in verschiedenen Formen und die Abgrenzung zu „wirklichem“ Kapital wird dadurch nicht leichter: „Mit der Entwicklung des zinstragenden Kapitals und des Kreditsystems scheint sich alles Kapital zu verdoppeln und stellenweise zu verdreifachen durch die verschiedne Weise, worin dasselbe Kapital oder auch nur dieselbe Schuldforderung in verschiednen Händen unter verschiednen Formen erscheint. Der größte Teil dieses „Geldkapitals“ ist rein fiktiv.“[4]
Marx beschreibt in diesem Zusammenhang neben dem Kreditsystem auch die Tatsache, dass sich neue AGs bilden, deren Geschäft es ausschließlich ist, Aktien anderer Gesellschaften zu erwerben (Beteiligungsgesellschaften). Somit besteht dann das wirkliche Kapital, welches in Produktion oder Handel zur Anwendung kommt, sowie die Aktien der entsprechenden Produktions- oder Handelsgesellschaft und als drittes die Form der Aktien der Beteiligungsgesellschaft. Diese Anfangsform des Beteiligungssystems[5] ist bis heute sprunghaft weiterentwickelt worden. Kapitalsammelstellen, die lediglich Aktien erwerben, sind insbesondere Investmentfonds und Kapitallebensversicherungen (und Abwandlungen davon). In diesem Zusammenhang sind heute auch Fälle zu beobachten, die die von Marx erwähnte scheinbare Verdreifachung des Kapitals weit übertrifft.
Immer stärkere Bedeutung bei großen Fusionen und Übernahmen bekommt die Aktie als Währung[6], als Mittel zum Aufkaufen der Konkurrenz. Bisher größtes Beispiel dieser Art war die Mannesmann-Übernahme durch Vodafone, die in einem anderen Artikel dieser KAZ ausführlich analysiert ist.
Grundsätzlich läuft diese Form so ab, dass auf Basis eines Beschlusses der Hauptversammlung neue Aktien gedruckt werden. Diese Kapitalerhöhung erfolgt dann nicht gegen Einzahlung von Geld, sondern gegen „Einzahlung“ der Aktien durch die Aktionäre der übernommenen Firma. Die Aktionäre tauschen also (hier) die Mannesmann-Aktie gegen Vodafone-Aktien:
druckt neue Aktien und gibt diese
Vodafone Mannesmann
diese geben dafür ihre Aktien
Es fließt kein Geld und die Menge wirklichen Kapitals ist um keinen Penny verändert worden, es wurde lediglich fiktives Kapital „geschöpft“. Dieses kann wiederum von seinem Eigentümer nur realisiert werden, indem er die Aktie an einen anderen verkauft, der den Preis für die neue Aktie bezahlt.
Der Druck weiterer Aktien kann auch zur Zahlung von Lohn dienen. In vielen Firmen, insbesondere der so genannten neuen Märkte (Computer- und Biotechnologie, Internet) erhalten Beschäftigte einen Teil des Lohns in Form so genannter Aktienoptionen. Steigt dann der Aktienkurs innerhalb einer gewissen Frist, so werden als Einlösung der Aktienoption neue Aktien zu Preisen deutlich unterhalb des dann aktuellen Kurses an die Beschäftigten ausgegeben. Die AG bezahlt hier Lohn mit fiktivem Kapital (=Aktien statt Geld). Dies funktioniert allerdings nur, wenn die Kurse steigen oder zumindest auf einem hohen Niveau bleiben. Mit dem Absturz der Neuen Märkte in aller Welt haben die Beschäftigten dieser Firmen, die im Hinblick auf diese Aktienoptionen niedrige Bezahlung mehr oder weniger freiwillig akzeptiert haben, schon deutlich gespürt, was zum Beispiel aus so einer Aktienrente einmal werden kann.
Über die verschiedenen Formen des Kapitals fasst Marx zusammen:
„Diese [Wertpapiere] aber, wenn Staatspapiere, sind Kapital bloß für den, der sie gekauft hat, dem sie also seinen Kaufpreis, sein in ihnen angelegtes Kapital repräsentieren; an sich sind sie kein Kapital, sondern bloße Schuldbuchforderungen; wenn Hypotheken, sind sie bloße Anweisungen auf künftige Bodenrente, und wenn sonstige Aktien, bloße Eigentumstitel, die zur Empfangnahme von künftigem Mehrwert berechtigen. Alle diese Dinge sind kein wirkliches Kapital, bilden keine Bestandteile des Kapitals und sind auch an sich keine Werte.“[7]
Fiktives Kapital existiert also keinesfalls nur in Aktien, sondern in verschiedenen Formen, denen gemeinsam ist, dass dieses Kapital nicht zur realen Anwendung im Kapitalkreislauf verwendet wird.
Insgesamt ergibt das fiktive Kapital einen beträchtlichen Teil des so bezeichneten „Geldvermögens in der BRD (und anderswo)“.
Auch für das fiktive Kapital erhebt der Kapitaleigentümer einen Anspruch auf Profit. Profitanspruch existiert somit beim fiktiven und realen Kapital gleichermaßen, die Ausbeutung geht von beiden Arten aus.
1 MEW, Band 25, S. 482/3
2 ebenda, S. 493/4
3 wovon er im März 2001 deutlich entfernt war. Die Staatsschuld war also betragsmäßig zu diesem Zeitpunkt etwa eineinhalbmal soviel wie die Börsenkapitalisierung der 30 DAX® -Werte
4 MEW, Band 25, S. 488
5 siehe hierzu ausführlich: Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, LW Band 22, S.189-309
6 oftmals auch sogenannte Akquisitionswährung (Akquisition = Erwerbung, Anschaffung)
7 MEW, Band 25, S. 474
Allen Grund zum Lachen bei der Übenahme von Mannesmann durch Vodafone: „Die Expropriation [=Enteignung] vollzieht sich durch das Spiel der immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise selbst, durch die Zentralisation der Kapitale. Je ein Kapitalist schlägt viele tot...“ (K. Marx, Das Kapital, Bd.1, MEW 23, S.790)