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„Ich kenne keine Klassen mehr, ich kenne nur noch Deutsche”1

oder „Nicht knechten und bitten - dafür mutig gestritten!”2

Wem nützt es...

Es ist nichts Neues, daß bürgerliche Professoren, Politiker, Journalisten, kurz die gesamte bürgerliche Öffentlichkeit davon ausgehen, daß es in „modernen“ Gesellschaften keine Klassen gibt, sondern bestenfalls Schichten und Gruppierungen, die durchlässig sind und verträglich miteinander auskommen können. Dazu gibt es die Verbände - Arbeitgeberverbände, Gewerkschaften, Bauernverbände, Mittelstandsvereinigungen, Wohlfahrtsverbände für die Belange der Mühseligen und Beladenen, Frauenverbände, Kirchen, Selbsthilfegruppen, Bürgerinitiativen, Sportvereine - die in der „sozialen Marktwirtschaft“ ihre Interessen gegenseitig und gegenüber dem Staat vertreten, verhandeln und Kompromisse schließen.

Um die Durchlässigkeit zwischen unteren und oberen Schichten zu fördern, ist die SPD Anfang der 70er Jahre angetreten mit ihren Bildungsreformen, die Chancengleichheit bringen sollten.

Mit der Vorstellung, daß jeder auch Arbeitgeber werden kann, warb die Regierung Kohl dafür, sich doch selbständig zu machen, Unternehmen zu gründen, Arbeitsplätze bereitzustellen, um so die ernsthaft störende Erwerbslosigkeit in Millionenhöhe aus der Welt zu schaffen.

War die Reformpolitik der SPD damals jedoch auch Reaktion auf eine breite Welle des Protestes der Studenten gegen „den Muff von tausend Jahren“ und Ausdruck einer Haltung, die zumindest davon ausging, daß nicht ererbte Fähigkeiten die Stellung eines Menschen in der Gesellschaft bestimmen, sondern diese Fähigkeiten selbst Ergebnis gesellschaftlicher Umstände sind, so steckt hinter dem Vorschlag der Kohlregierung gerade wieder der Rückgriff in die Mottenkiste: jeder ist seines Glückes Schmied.

Bei allen im konkreten Kampf nicht zu vernachlässigenden Unterschieden zwischen den einzelnen Strömungen bürgerlicher Anschauungen und Politik, es wird uns heute unisono in den Schulen, Hochschulen, Zeitungen, Betrieben erklärt, daß die Marx’sche Lehre von den Klassen falsch war oder zumindest heute überholt ist. Die Gesellschaft besteht aus vielen einzelnen Bürgern, die alle gleich sind. Wo dem nicht so ist, wenn staatliche Willkür zu offensichtlich wird, wenn Menschen in Polizeigewahrsam mißhandelt oder andere in Länder abgeschoben werden, in denen ihnen Folter oder gar Hinrichtung drohen, pocht der beste Teil dieser Strömungen auf die Einhaltung der Menschenrechte auch hier im Land.

Nun kann man von der Bourgeoisie und ihren Denkern und Schreibern kaum erwarten, daß sie uns die Wirklichkeit so erklären, wie sie ist, ist doch ihr Abbild der Wirklichkeit ihrerseits bereits Ausdruck ihrer Klassenlage und ihres Klasseninteresses. Und dafür ist es nun einmal sehr nützlich, wenn es keine Klassen gibt, keine Arbeiterklasse, keine Bourgeoisie und zwischen beiden kein unversöhnlicher Widerspruch, sondern Sachzwänge. Diese Sachzwänge, die der Logik des Kapitals entspringen, sind es denn auch, warum z.B. ein Herr Hundt, Präsident des BDA (Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeber) und geschäftsführender Eigentümer (50%-Anteil) einer Autozuliefererfirma, weiß, was er zu tun hat. Er weiß das, unabhängig davon, ob er nun selbst eine Ahnung davon hat, daß Klassen in dieser Gesellschaft irgendeine Rolle spielen oder nicht. Bei Strafe des Untergangs seines Unternehmens muß er dafür sorgen, daß er möglichst viel Mehrwert[3] aus den Knochen und Hirnen seiner Arbeiter herauspreßt, möglichst mehr, als seine Konkurrenten, auf jeden Fall nicht weniger.

Herr Hundt kann sogar ernsthaft an das glauben, was er unermüdlich predigt, daß jeder Pfennig, den er und seinesgleichen mehr an Steuern zahlen müssen oder eine Wiederherstellung der vollen Lohnfortzahlung im Krankheitsfall usw. Arbeitsplätze vernichtet, es wird ihn nicht daran hindern, so oder so in seinem Interesse als Kapitalist zu handeln. Er wird mit oder ohne Lohnfortzahlung Arbeiter entlassen, wenn er die von ihnen produzierten Waren nicht mehr loskriegt, er wird ein paar Menschen mehr einstellen, wenn und solange es die Auftragslage notwendig macht. Stellen seine Konkurrenten bessere Maschinen in ihre Fabrikhallen, wodurch wieder einige Arbeiter überflüssig werden, so weiß er, daß er über kurz oder lang nachziehen muß, völlig gleichgültig, ob er nun ein paar Mark mehr oder weniger Steuern zahlen muß.

Die Gesetzmäßigkeiten des Kapitals vollziehen sich hinter dem Rücken der Kapitalisten. Sie erscheinen ihnen und der ganzen Gesellschaft als Sachzwänge. Indem die Kapitalisten entsprechend dieser Sachzwänge handeln und die gesamte Gesellschaft zwingen, sich den Sachzwängen zu unterwerfen, handeln sie in ihrem Interesse.Sie führen damit auf ihrer Seite der Barrikaden den Klassenkampf, der „mal offen, mal verdeckt“ (Marx) die Triebfeder der Gesellschaft ist. Und so kann es ihnen nur recht sein, wenn schon allein das Wort Klassenkampf verdammt wird als Relikt aus der Vergangenheit, als konservativ und unmodern. Denn gemeint ist damit die Klasse auf der anderen Seite der Barrikaden, die Arbeiterklasse und ihr Kampf.

... und wem schadet es, wenn mit „dem Klassenkampfgerümpel aufgeräumt wird“?

Doch auch in den größten Organisationen der Arbeiterklasse, den Gewerkschaften, setzten sich in den letzten Jahren zunehmend die Kräfte durch, die Worte wie Klassen und Klassenkampf aus dem Vokabular und damit möglichst auch aus dem Bewußtsein der Gewerkschafter streichen wollen. So wie jedoch zur Kapitalistenklasse ohne viele Worte der Erklärung der Kapitalismus als Gesellschaftsform gehört, so ist die Arbeiterklasse und ihr Kampf mit der Überwindung des Kapitalismus, mit dem Sozialismus verbunden. Das ist den Gewerkschaftern, die keinen Klassenkampf mehr wollen und für den scheinbar bequemeren Weg der Klassenzusammenarbeit plädieren, durchaus bewußt: „Viele unserer Funktionäre sollten endlich begreifen, daß wir mit Klassenkampfparolen nicht die Problemlagen der Arbeitnehmer treffen, sondern nur gelangweiltes Gähnen provozieren. Die praktische, alltägliche Gewerkschaftsarbeit besteht doch aus tausend kleinen Kompromissen. Wer trotzdem Systemüberwindung predigt, sollte sich nicht wundern, wenn er Vertrauen und Glaubwürdigkeit verliert. Entweder präsentieren sich die Gewerkschaften als antikapitalistische Protestbewegung ohne Perspektive oder als Reformbewegung mit ausgeprägt betrieblicher Verankerung und dem Anspruch, die Arbeits- und Lebensbedingungen weiter zu verbessern.“[4]

Die Abschaffung der Lohnarbeit und den Sozialismus als Ziel, suchte man in den Grundsatzprogrammen des DGB seit Jahrzehnten vergeblich, was von seiten der Arbeiterbewegung in Westdeutschland nicht unwesentlich dazu beigetragen hat, daß eine bereits einmal erreichte Kampfposition der Arbeiterklasse, die DDR, auch real wieder verloren ging. Nun, da der Sozialismus in Europa getilgt und „verschwunden“ ist, gibt es in dem 1996 verabschiedeten neuen DGB-Grundsatzprogramm bereits so gut wie keine Kapitalisten und keinen Kapitalismus mehr, sondern „gesteuerte oder ungesteuerte Marktmechanismen“ und einen „Sozialstaat“. Selbst „Arbeitgeber“ tauchen nur noch ganz vereinzelt auf. Was bleibt da als Handlungsgrundlage überhaupt noch anderes übrig, als eben jene berühmten, ano­nymen, fast wie Naturgesetze erscheinenden Sachzwänge?

Anders als ein x-beliebiger Kapitalist, mag er Hundt heißen oder Stihl, von Siemens oder Quandt, der kein besonderes Bewußtsein braucht, um in seinem Interesse als Kapitalist zu handeln, müssen sich die Arbeiter in ihren Kämpfen immer wieder und offensichtlich auch immer wieder von neuem als Klasse erfahren und sich das Wissen aneignen, daß die Hinweise der Kapitalisten auf die Sachzwänge nichts anderes als Betrug und Erpressung sind, um sie von ihrem Kampf abzuhalten. Denn die Arbeiter stehen nicht außerhalb des Kapitalismus und seiner Gesetzmäßigkeiten. Sie sind als Verkäufer ihrer Ware Arbeitskraft, der einzigen Ware, die sie anbieten können, ebenso untereinander Konkurrenten, wie die Verkäufer von Autos, Kanonen, Brot, Kleidern oder von Vermögensberatungen untereinander Konkurrenten sind. Ist jedoch bei letzteren die Konkurrenz der Motor, über den sich ihr Handeln spontan vollzieht, so müssen die Arbeiter feststellen, daß sie als einzelne hilflose Anhängsel des Kapitals sind, ausgeliefert den Gewalttaten der Kapitalisten und stets Gefahr laufen, „zu einer unterschiedslosen Masse ruinierter armer Teufel, denen keine Erlösung mehr hilft“[5], degradiert zu werden. Die Arbeiter beginnen sich zusammenzuschließen im Kampf um mehr Lohn, im Kampf um die Verkürzung des Arbeitstages, in einzelnen Fabriken, in denen das Kapital sie zusammenzwängt, in landesweiten Gewerkschaften, in nationalen und internationen Arbeiterorganisationen. Doch so, wie die Bourgeoisie objektiv gar nicht anders kann, als den Arbeitern immer wieder die Notwendigkeit des gemeinsamen Kampfes gegen sie drastisch vor Augen zu führen, sosehr versucht sie subjektiv, die Konkurrenz unter den Arbeitern als Warenverkäufer für ihre Spaltungsmanöver zu nutzen. „Diese Organisation der Proletarier zur Klasse, und damit zur politischen Partei, wird jeden Augenblick wieder gesprengt durch die Konkurrenz unter den Arbeitern selbst.“[6]

Die Arbeiterklasse braucht das Wissen, wer ihr Feind ist, was er warum tut, braucht das Wissen um die eigene Klasse, um ihre Geschichte, um ihre Zukunft, um diese Konkurrenz überwinden zu können. Sie kann nur bewußt, planvoll, organisiert den Sieg über die Bourgeoisie und die Anarchie der kapitalistischen Produktionsweise erringen.

DAS LIED VOM KLASSENFEIND

Als ich klein war, ging ich zur Schule

Und ich lernte was mein und was dein

Und als da alles gelernt war

Schien es mir nicht alles zu sein.

Und ich hatte kein Frühstück zu essen

Und andre, die hatten eins:

Und so lernte ich doch noch alles

Vom Wesen des Klassenfeinds.

Und ich lernte, wieso und weswegen

Da ein Riß ist durch die Welt!

Und der bleibt zwischen uns, weil der Regen

Von oben nach unten fällt.

Und sie sagten mir: wenn ich brav bin

Dann werd ich dasselbe wie sie.

Doch ich dachte: wenn ich ihr Schaf bin

Dann werd ich ein Metzger nie.

Und manchen von uns sah ich

Der ging ihnen auf den Strich

Und geschah ihm, was dir und was mir geschah

Dann wunderte er sich.

Mich aber, mich nahm es nicht wunder

Ich kam ihnen frühzeitig drauf:

Der Regen fließt eben herunter

Und fließt eben nicht hinauf.

Da hörte ich die Trommeln rühren

Und alle sprachen davon:

Wir müßten jetzt Kriege führen

Um ein Plätzlein an der Sonn.

Und heisere Stimmen versprachen

Uns das Blaue vom Himmel herab

Und herausgefressene Bonzen

Schrien: Macht jetzt nicht schlapp!

Und wir glaubten: jetzt sind’s nur mehr Stunden

Dann haben wir dies und das.

Doch der Regen floß wieder nach unten

Und wir fraßen vier Jahre lang Gras.

Und einmal, da hieß es auf einmal:

Jetzt machen wir Republik!

Und der eine Mensch ist da dem andern gleich

Ober er mager ist oder dick.

Und was vom Hunger matt war

War so voll Hoffnung nie.

Doch was vom Essen satt war

War hoffnungsvoll wie sie.

Und ich sagte: Da kann was nicht stimmen

Und war trüber Zweifel voll:

Das stimmt doch nicht, wenn der Regen

Nach aufwärts fließen soll.

Sie gaben uns Zettel zum Wählen

Wir gaben die Waffen her

Sie gaben uns ein Versprechen

Und wir gaben unser Gewehr.

Und wir hörten: die es verstehen

Die würden uns helfen nun

Wir sollten an die Arbeit gehen

Sie würden das übrige tun.

Da ließ ich mich wieder bewegen

Und hielt, wie’s verlangt wurd, still

Und dachte: das ist schön von dem Regen

Daß er aufwärts fließen will.

Und bald darauf hörte ich sagen

Jetzt sei alles schon eingerenkt

Wenn wir das kleinere Übel tragen

Dann würd uns das größere geschenkt.

Und wir schluckten den Pfaffen Brüning

Damit’s nicht der Papen sei

Und wir schluckten den Junker Papen

Denn sonst war am Schleicher die Reih.

Und der Pfaffe gab es dem Junker

Und der Junker gab’s dem General.

Und der Regen floß nach unten

Und er floß ganz kolossal.

Während wir mit Stimmzetteln liefen

Sperrten sie die Fabriken zu

Wenn wir vor Stempelstellen schliefen

Hatten sie vor uns Ruh.

Wir hörten Sprüche wie diese:

Immer ruhig! Wartet doch nur!

Nach einer größeren Krise

Kommt eine größere Konjunktur!

Und ich sagte meinen Kollegen:

So spricht der Klassenfeind!

Wenn der von guter Zeit spricht

Ist seine Zeit gemeint.

Der Regen kann nicht nach aufwärts

Weil er’s plötzlich gut mit uns meint.

Was er kann, das ist: er kann aufhörn

Nämlich dann, wenn die Sonne scheint.

Eines Tages sah ich sie marschieren

Hinter neuen Fahnen her

Und viele der Unsrigen sagten:

Es gibt keinen Klassenfeind mehr.

Da sah ich an ihrer Spitze

Fressen, die kannte ich schon

Und ich hörte Stimmen brüllen

In dem alten Feldwebelton.

Und still durch die Fahnen und Feste

Floß der Regen Nacht und Tag

Und jeder konnte ihn spüren

Der auf der Straße lag.

Sie übten sich fleißig im Schießen

Und sprachen laut vom Feind

Und zeigten wild über die Grenze

Und uns haben sie gemeint.

Denn wir und sie, wir sind Feinde

In einem Krieg, den nur einer gewinnt

Denn sie leben von uns und verrecken

Wenn wir nicht mehr die Kulis sind.

Und das ist es auch, weswegen

Ihr euch nicht wundern dürft

Wenn sie sich werfen auf uns, wie der Regen

Sich auf den Boden wirft.

Und wer von uns verhungert ist

Der fiel in einer Schlacht

Und wer von uns gestorben ist

Der wurde umgebracht.

Den sie holten mit ihren Soldaten

Dem hat Hunger nicht behagt

Dem sie den Kiefer eintraten

Der hat hatte nach Brot gefragt.

Dem sie das Brot versprochen

Auf den machen sie jetzt Jagd

Und den sie im Zinksarg bringen

Der hat die Wahrheit gesagt.

Und wer ihnen da geglaubt hat

Daß sie seine Freunde sind

Der hat eben dann erwartet

Daß der Regen nach oben rinnt.

Denn wir sind Klassenfeinde

Was man uns immer auch immer sagt:

Wer von uns nicht zu kämpfen wagte

Der hat zu verhungern gewagt.

Wir sind Klassenfeinde, Trommler!

Das deckt dein Getrommel nicht zu!

Fabrikant, General und Junker

Unser Feind, das bist du!

Davon wird nichts verschoben

Da wird nichts eingerenkt!

Der Regen fließt nicht nach oben

Und das sei ihm auch geschenkt!

Da mag dein Anstreicher streichen

Den Riß streicht er nicht zu!

Einer bleibt und einer muß weichen

Entweder ich oder du.

Und was immer ich auch noch lerne

Das bleibt das Einmaleins:

Nichts habe ich jemals gemeinsam

Mit der Sache des Klassenfeinds.

Das Wort wird nicht gefunden

Das uns beide jemals vereint:

Der Regen fließt von oben nach unten

Und du bist mein Klassenfeind.

Bertolt Brecht

Heute zeigt sich, daß sie ohne dieses Wissen, ohne Klassenbewußtsein, ohne Perspektive kaum die notwendigen Abwehrkämpfe führen kann. Die Gewerkschaftsführer, die dieses „klassenlose“ DGB-Grundsatzprogramm durchsetzten, das ihrer langjährigen Praxis entspricht, werden feststellen, daß das, was an nützlichen Dingen in diesem Grundsatzprogramm enthalten ist, entweder nicht oder aber nur gegen die Grundhaltung der Klassenzusammenarbeit erreicht werden kann. „Solidarität ist stärker als früher Ergebnis von Einsicht, die geweckt und gestärkt werden muß“ ist in dem DGB-Programm zu lesen.[7] Lassen wir den rätselhaften Unterschied zu früher einmal weg. Wie soll diese Solidarität geweckt werden, wenn z.B. nicht nur die Chemie-Kapitalisten, sondern auch die IG-Chemie von der neuen Regierung fordern, „ihre“ energieintensiven Konzerne von der Energiesteuer auszunehmen, statt zu fordern, daß nur die Unternehmer diese Steuern zahlen sollen.

Doch auch innerhalb der Linken ist die Klassenfrage sehr umstritten. Arbeiterklasse? - Marx mag in vielem recht gehabt haben, aber da hat er sich wohl geirrt oder ist inzwischen überholt. So unterschiedlich die einzelnen Fragen und Antworten sind, die aufgeworfen werden, das Hauptproblem dabei ist die „unsichtbare“ Arbeiterklasse. Der Sozialismus in einem Teil Deutschlands, die Arbeiterklasse an der Macht - für viele ein Fehlversuch, mit erheblichen Mängeln behaftet, gescheitert, verschwunden. Die Arbeiterinnen und Arbeiter, die Angestellten in Westdeutschland - sie kämpfen ab und zu für mehr Lohn, jede Branche für sich, gegenüber den immer drängender werdenden politischen Angriffen auf die Demokratie schweigen sie oder noch schlimmer, einige billigen sie auch.

Was bleibt übrig, als irgendwelche dritten Wege zu suchen oder aber dieses ganze Land zu verdammen?

Wo die Arbeiterklasse scheinbar als selbständige, selbstbewußte, die Geschichte vorwärtstreibende Kraft verschwindet, verschwindet aber auch die Bourgeoisie aus dem Blickfeld, als die Klasse, die die kapitalistischen Gesetzmäßigkeiten vollzieht und in ihrem Interesse vollziehen muß. Was bleibt sind wiederum anonyme, schwer faßbare Gesetzmäßigkeiten.

So wird z.B. die Zunahme der offenen Faschisten von vielen aus der zunehmenden Armut und Perspektivlosigkeit großer Teile der Bevölkerung erklärt statt aus der wachsenden Aggressivität des deutschen Imperialismus und dem Interesse des Kapitals, seine Ziele notfalls auch mit unverhüllter Gewalt und Terror nach innen und außen durchzusetzen. Die Konsequenz dieser Haltung aber ist, den Bock zum Gärtner zu machen: die Forderung nach mehr Arbeitsplätzen, die gemeinsam mit den Unternehmern geschaffen werden müssen.

Es ist die Aufgabe der Kommunisten in diesem Land, gleich, welchen Organisationen sie angehören, Antworten geben zu können auf diese Fragen. Schließlich sind es auch unsere eigenen und sicherlich in unterschiedlichster Form die Fragen vieler Kolleginnen und Kollegen. Wir sind Teil dieser so wenig klassenbewußten Arbeiterklasse und entsprechend schwach und schlecht organisiert. Dann tun wir eben das, was wir tun können: aufzeigen, was Klassen sind, welche Klassen und Schichten welche Interessen haben und wie sie heute, am Ende des 20. Jahrhunderts, ausschauen. Dabei müssen wir nicht neu entdecken, daß die Erde um die Sonne kreist, aber aufzeigen, daß sie dies auch bei vorübergehender Sonnenfinsternis tut.

Dies zu tun, wird heute, so seltsam das für viele Antifaschisten klingen mag, zur antifaschistischen Aufgabe.

„Ich kenne keine Klassen mehr, ich kenne nur noch Deutsche“

Vor 10 Jahren wäre es noch unvorstellbar gewesen: anläßlich der parteienübergreifenden Zustimmungen (mit Ausnahme der PDS und einzelner Abgeordneter der SPD und der Grünen) zu Kriegseinsätzen wird das Zitat von Kaiser Wilhelm immer wieder angedeutet - wir kennen keine Parteien mehr. Doch der herrschenden Klasse reicht die parteienübergreifende Zusammenarbeit nicht aus. Sie braucht mehr, zumindest als Option, auf die sie zurückgreifen kann: die Volksgemeinschaftsideologie, die sich nicht nur dadurch auszeichnet, daß sie keine Klassen kennt, sondern darüber hinaus dadurch, daß sie sich im Land gegen alles „Nichtdeutsche“ und „Undeutsche“ und nach außen gegen andere Völker richtet.

In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung nach der Wahlniederlage der Unionsparteien und dem Wahlsieg der CSU in Bayern äußerte Stoiber zu den anstehenden Aufgaben: „Ich glaube, daß alleine die soziale Gerechtigkeit nicht ausreicht, um Deutschland zusammenzuhalten. Wenn wir nicht wie andere Nationen ein Zusammengehörigkeitsgefühl, einen aufgeklärten Patriotismus entwicklen, dann wird dieses Land nicht zusammenwachsen. Das ist eine zentrale Aufgabe der Union. Das kann die SPD nicht leisten. Den Wert der Nation als Gemeinschaft mit gleichen Rechten und Pflichten versteht Rot-Grün nicht, wenn es Millionen Menschen aus anderen Nationen durch die Automatik der doppelten Staasbürgerschaft eine bessere Position einräumt als den deutschen Staatsbürgern - zum Beispiel im Familienrecht.“[8]

Eine Konkretisierung dieser Vorstellungen erleben wir schon heute auf den Straßen an den Unterschriftenständen der CSU/CDU: die Sammlung der reaktionärsten Kräfte, das Schüren des dumpfesten Hasses gegen alles, was nicht „deutsch“ ist. Insofern hat Herr Stoiber recht, das „versteht Rot-Grün nicht“. Wir wissen aus der Geschichte, daß die SPD vor dem 1. Weltkrieg den Kriegskrediten zugestimmt hat und daß sie aktuell „Kontinuität in der Außenpolitik“ gewährleistet. Die Dinge in diesem Land allerdings so voranzutreiben, daß diesem Satz: „Ich kenne keine Parteien mehr“, die Kriegserklärung „Ich kenne nur noch Deutsche“ angehängt werden kann, dazu braucht es die Reaktion, das konnte die SPD zumindest bisher nicht leisten. Schon gar nicht ist sie in der Lage, Hilflosigkeit, Angst und Wut großer Teile der Bevölkerung dahingehend zu mobilisieren, daß die Errichtung einer faschistischen Diktatur der Monopolbourgeoisie wieder möglich wird. Dem stehen die Geschichte und die Wurzeln dieser Partei entgegen, die nach wie vor wesentlich in den Gewerkschaften liegen. Sie kann es nicht deshalb nicht, weil Arbeiter und Arbeiterinnen von Haus aus bessere oder klügere Menschen sind, sondern weil die Arbeiterklasse objektiv kein Interesse an solchen Kriegserklärungen an das eigene Volk und die Völker der Welt hat. Selbst in dem zahnlos geschlagenen Grundsatzprogramm des DGB steht deshalb u.a. noch drin, daß die Gewerkschaften für ein Recht auf Asyl, für die doppelte Staatsbürgerschaft eintreten und allen Erscheinungsformen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit entgegentreten. Doch was Gewerkschaftsführer, die mit dem Klassenkampfgerümpel aufräumen wollen, was führende SPD-Politiker, die die Zusammenarbeit der eigentlich gar nicht mehr vorhandenen Klassen praktizieren, tun, ist die Arbeiterklasse gegenüber dem „aufgeklärten Patriotismus“ des Herrn Stoiber zu entwaffnen und so das Eindringen von nationalistischem und rassistischem Gedankengut in die Köpfe der Arbeiter zu erleichtern.

Nun nützt es wenig festzustellen, wohin es führt, wenn die Arbeiterklasse sich nicht wieder ihr Bewußtsein erkämpft, sich nicht selbst als Klasse begreift, ohne die nicht einmal der Kampf gegen die zunehmenden rassistischen und nationalistischen Tendenzen und die Kriegsgefahr erfolgreich sein kann, geschweige denn eine Überwindung eines Systems, das diese Tendenzen notgedrungen immer wieder hervorbringt. Wir müssen uns fragen, welche Erscheinungen und Entwicklungen in Westdeutschland es möglich gemacht haben, daß sich das Bewußtsein der Herrschenden nach 1945 wieder so zum unangefochten herrschenden Bewußtsein durchsetzen konnte. Wir wissen, daß die Antwort auf die Frage notwendig ist, um der Hilflosigkeit und Resignation bis hinein in die eigenen Reihen ein Ende zu bereiten. Wir wissen auch, daß wir nicht in der Lage sind, darauf eine umfassende Antwort zu geben, daß der Versuch, die Klassen heute aufzuzeigen, sie zu untersuchen, nur ein kleiner Teil dieser Antwort ist. Doch dieser kleine Teil ist notwendig, um uns zu verständigen und um gemeinsam über die offenen Fragen diskutieren zu können.

Was sind Klassen?

„Als Klassen bezeichnet man große Menschengruppen, die sich voneinander unterscheiden nach ihrem Platz in einem geschichtlich bestimmten Sytem der gesellschaftlichen Produktion, nach ihrem (größtenteils in Gesetzen fixierten und formulierten) Verhältnis zu den Produktionsmitteln, nach ihrer Rolle in der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit und folglich nach der Art der Erlangung und der Größe des Anteils am gesellschaftlichen Reichtum, über den sie verfügen. Klassen sind Gruppen von Menschen, von denen die eine sich die Arbeit der anderen aneignen kann infolge der Verschiedenheit ihres Platzes in einem bestimmten System der gesellschaftlichen Wirtschaft.“[9]

Vor 151 Jahren (Dezember 1847/Januar 1848), mitten in den Kämpfen des Bürgertums gegen die Feudalisten um ein politisches System, das der bürgerlichen, also kapitalistischen Produktionsweise entsprach, beschrieben Karl Marx und Friedrich Engels, welche Klassen sich in dieser bürgerlichen Gesellschaft gegenüberstehen:

„Unsere Epoche, die Epoche der Bourgeoisie, zeichnet sich jedoch dadurch aus, daß sie die Klassengegensätze vereinfacht hat. Die ganze Geselleschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat.“[10]

Alter Schnee von gestern?

Doch wer besitzt heute die Produktionsmittel, die Maschinen und Fabriken, wem gehören die Produkte? Wem gehören die sogenannten Dienstleistungsunternehmen, die der Imperalismus in immer größerer Zahl hervorbringt, die Werbeagenturen, die Reinigungsfirmen, die Vermögensberatungsfirmen usw. und wem gehören damit die Gewinne, die sich mit dem Verkauf dieser Dienstleistungen machen lassen? Den Putzfrauen und -männern, den Schreibkräften, den Werbetextern? Sie bekommen nichts anderes als ihren Lohn und gehören zu der überwiegenden Mehrheit in diesem Land, die nichts anderes zu verkaufen haben, als ihre Arbeitskraft und die aus dem Arbeitsprozeß herauskommen ohne einen Deut mehr zu besitzen als bestenfalls das, was sie zum Leben brauchen.

Viele Kolleginnen und Kollegen erkennen doch an unterschiedlichen Punkten immer wieder, daß dies so ist. Ob Arbeiter oder kleine Angestellte, sie sind sich in der Regel bitter im klaren darüber, daß sie mindestens bis zum gesetzlichen Rentenalter diese ihre Ware Arbeitskraft verkaufen müssen, um nicht zu verelenden. Wenn dem nicht so wäre, wenn sie ihren Lebensunterhalt anders bestreiten könnten, wäre die massenhafte Erwerbslosigkeit doch gar kein Problem. Auch wenn viele nicht wissen, daß alle Gesetze in diesem Land diese Verhältnisse sanktionieren, vom Grundgesetz angefangen, in dem das Recht auf Eigentum festgelegt ist, so erfahren sie spätestens bei Kündigungen, daß das Betriebsverfassungsgesetz jeden Betriebsrat schon da an seine Grenzen stoßen läßt, wo es darum geht, Entlassungen zu verhindern. Der Betriebsrat kann sie verzögern, Widerspruch einlegen und bestenfalls noch einen Sozialplan aushandeln. Mehr gesteht ihm das Gesetz nicht zu.

Was macht es also so schwierig, diese zwei Hauptklassen zu erkennen?

Warum die Bourgeoisie sich selbst so darstellen kann, als würde sie Naturgesetze im Namen der Menschheit vollziehen

Es gibt in Westdeutschland eine Reihe kleiner bis größerer Unternehmen neben den großen Konzernen, deren Besitzer Kapitalisten (siehe Kasten) und als solche auch bekannt und greifbar sind. Sie stellen die Masse dieser Klasse dar, scheinen jedoch selbst eher Marionetten unsichtbarer Zwänge zu sein, als das, was sie sind: Akteure, die in ihrem ureigensten Interesse handeln und andere handeln lassen. Sie haben Einfluß in Gemeinden und Städten, gehören zu den ehrwürdigen Bürgern, haben Verwandte und Spezis in den Gemeinde- und Stadträten oder gehören diesen selbst an und sorgen dafür, daß diese Volksvertretungen sie bei der Vergabe von Aufträgen nicht vergessen. Doch sie bestimmen nicht unmittelbar die Geschicke dieses Landes, sondern nur als Mitglieder dieser Klasse, vertreten z.B. durch einen Herrn Hundt.

Sie selbst und ihre Unternehmen sind abhängig von den Banken, bei denen sie Schulden haben oder/und den großen Konzernen, die sie beliefern. Doch wem gehören diese? Sind sie denn nicht im Besitz zahlloser Aktionäre und damit schon fast so etwas wie Gemeinbesitz? Werden sie nicht von angestellten, also lohnabhängigigen Managern geführt und verwaltet und nicht durch Kapitalisten?

Die großen Banken und Konzerne - Dresdner Bank, Deutsche Bank, Siemens, Daimler-Benz, BASF, VW um nur einge zu nennen - sind Ausdruck einer Akkumulation (=Anhäufung) von Kapital, die längst über die Möglichkeit, im alleinigen Besitz einzelner Kapitalistenfamilien zu sein oder durch diese verwaltet zu werden, hinausgeht. Sie sind nichts anderes, als konkreter, mit Firmennamen und Herkunftsland behafteter Ausdruck einer Entwicklung in einem bestimmten Land, die Lenin bereits 1916 beschrieben hat: Die Folge einer Konzentration und Zentralisation von Kapital hin zum Monopol, eines über ein Jahrhundert andauernden und munter fortwährenden Hauens und Stechens der Kapitalisten untereinander, bei dem die Schwächeren vernichtet oder aufgekauft worden sind bzw. werden. Die Folge eines Prozesses, in dem Bank- und Industriekapital längst zum Finanzkapital verschmolzen sind, was ganz praktisch heißt, daß die großen Konzerne ihre Vertreter in den Aufsichtsräten der Banken sitzen haben und oder Aktienanteile an diesen halten und umgekehrt. Die Banken aber entscheiden über Kredite an die kleineren Kapitalisten, sie leihen „ihr“ Geld an den Staat, das dieser mit Zins und Zinseszins aus den Steuergeldern der Werktätigen zurückzahlt.

Wann wird ein Mensch zu einem Kapitalisten?

„Aus der bisherigen Betrachtung der Produktion des Mehrwerts ergibt sich, daß nicht jede beliebige Geld- oder Warensumme in Kapital verwandelbar, zu dieser Verwandlung vielmehr ein bestimmtes Minimum von Geld oder Tauschwert in der Hand des einzelnen Geld- oder Warenbesitzers vorausgesetzt ist. Das Minimum von variablem Kapital (= der Teil des Kapitals, der für den Ankauf der Arbeitskräfte verwandt wird, also die Lohnsumme einschließlich der Sozialabgaben. Die Verf.) ist der Kostenpreis einer einzelnen Arbeitskraft, die das ganze Jahr durch, tagaus, tagein, zur Gewinnung von Mehrwert vernutzt wird. Wäre dieser Arbeiter im Besitz seiner eigenen Produktionsmittel und begnügte er sich, als Arbeiter zu leben, so genügte ihm die zur Reproduktion seiner Lebensmittel notwendige Arbeitszeit, sage von 8 Stunden täglich. Er brauchte also auch nur Produktionsmittel für 8 Arbeitsstunden. Der Kapitalist dagegen, der ihn außer diesen 8 Stunden sage 4 Stunden Mehrarbeit verrichten läßt, bedarf einer zusätzlichen Geldsumme zur Beschaffung der zusätzlichen Produktionsmittel. Unter unsrer Annahme jedoch müßte er schon zwei Arbeiter anwenden, um von dem täglich angeeigneten Mehrwert wie ein Arbeiter leben, d.h. seine notwendigen Bedürfnisse befriedigen zu können. In diesem Fall wäre bloßer Lebensunterhalt der Zweck seiner Produktion, nicht Vermehrung des Reichtums, und das letztre ist unterstellt bei der kapitalistischen Produktion. Damit er nur doppelt so gut lebe wie ein gewöhnlicher Arbeiter und die Hälfte des produzierten Mehrwerts in Kapital zurückverwandle, müßte er zugleich mit der Arbeiterzahl das Minimum des vorgeschoßnen Kapitals um das Achtfache steigern... Das Minimum der Wertsumme, worüber der einzelne Geld- oder Warenbesitzer verfügen muß, um sich in einen Kapitalisten zu entpuppen, wechselt auf verschiedenen Entwicklungsstufen der kapitalistischen Produktion und ist, bei gegebner Entwicklungsstufe, verschieden in verschiednen Produktionssphären, je nach ihren besondren technischen Bedingungen.“ (Karl Marx: „Das Kapital“, MEW Bd.23, S.326 ff.)

Will man heute anhand der Anzahl der beschäftigten Arbeiter oder Angestellten in Unternehmen die Grenze feststellen, ab der die Besitzer Kapitalisten und keine Kleinbürger mehr sind, muß klar sein, daß eine solche Grenze aufgrund der völlig unterschiedlichen organischen[*] Zusammensetzung des Kapitals z.B. zwischen Produktions- und irgendwelchen Dienstleistungsbetrieben, nur einen sehr ungefähren Charakter haben kann. Da wir uns bloß an der bürgerlichen Statistik orientieren können, die als kleinste Kategorie Unternehmen mit 1 bis 9 Beschäftigten zusammenfaßt, gehen wir davon aus, daß es sich dabei noch um kleinbürgerliche Unternehmen handelt.

Genauer läßt sich die Größe des Geldvermögens bestimmen, das jemand besitzen muß und z.B.in Wertpapieren, Aktien- und Immobilienfonds anlegt, um, ohne selbst direkt als Kapitalist zu fungieren und ohne sonstige zusätzliche Einkünfte (z.B. Pensionen oder Managergehälter), Kapitalist zu sein. Wir gehen davon aus, daß er von den Gewinnen (in Form von Zinsen, Dividenden o.ä.) sehr viel besser leben will, als ein Arbeiter, sagen wir, er braucht 150.000,-DM/Jahr. Wir gehen weiter davon aus, daß er ebenso viel zur Vermehrung des Reichtums anlegt, also es in Kapital zurückverwandelt. Bei einer derzeitigen durchschnittlichen Rendite von 6% bis 8% muß er dazu ein Vermögen von 3,75 bis 5 Millionen DM besitzen.

Schon Marx beschrieb Mitte des letzten Jahrhunderts, wie das Kapital seinen Produzenten als übermächtige Macht gegenübertritt, wie das gesamte Wissen und Geschick einer Gesellschaft als Eigenschaft dieser Macht, des Kapitals, erscheint.[11]

Heute ist zudem noch die ganze Gesellschaft mit einem feinmaschigen Netz von Abhängigkeiten gegenüber einer aufzählbaren Anzahl von Konzernen und Banken überzogen. Die Sachzwänge des Kapitals, der Zwang von Siemens, BASF, Deutsche Bank... den Profit zu vermehren, erscheint als Naturgesetz, dem die ganze Gesellschaft unterliegt.

Umso mehr erscheint dies so nach dem Sieg des deutschen Imperialismus über die DDR bzw. dem internationalen Sieg, den die Bourgeoisie gegenüber der Arbeiterklasse nach der Zerschlagung der sozialistischen Staaten in Europa und der Sowjetunion nochmal erringen konnte. Nun herrschen diese scheinbaren Naturgesetze fast unumschränkt wieder weltweit, Siemens, VW, Deutsche Bank...aber auch kleinere Kapitalisten drängen nach Osten, begleitet vom politischen Zwang gegenüber den Regierungen der abhängigen Länder: Wenn ihr nicht diese und jene Auflagen erfüllt, können wir euch leider nicht unterstützen, keine Kredite geben usw. Die deutsche Bourgeoisie triumphiert und verfolgt den Verstoß gegen scheinbare Naturgesetze in ihrem wieder vergrößerten Hoheitsgebiet nachträglich noch als Verbrechen.

„Sie haben Namen, Anschrift und Gesicht“ (Bertolt Brecht)

Doch es wird nicht der Verstoß gegen angebliche Naturgesetze bestraft. Bestraft wird, daß die Arbeiterklasse in einem Teil Deutschlands ganz existenziell gegen die Interessen einer Gruppe von Menschen verstoßen hat, gegen die Interessen der Privateigentümer an Produktionsmitteln und Vermögen in jeglicher Form (Grundbesitz, Geld), gegen ihre Gier, immer mehr Reichtum in ihren Händen aufzuhäufen. Daß sich die Arbeiterklasse erfrecht hat, das zu tun, wonach der Grad der Entwicklung der Produktivkräfte damals schon geschrieen hat: sich selbst von der Ausbeutung durch diese Minderheit zu befreien und damit die gesellschaftliche Produktion von der Fessel der privaten Aneignung. Die Folgen des Widerspruchs zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung in einer bestimmten, historisch entstandenen Situation in einem ganz konkreten Land waren unübersehbar: unvorstellbare Barbarei und Zerstörung.

Vor den Gerichten der Anti-Hitler-Koalition standen nicht Naturgesetze, sondern Vertreter dieser Klasse, wie Flick oder Thyssen, die in ihrem ureigensten Interesse den Faschismus an die Macht beförderte und Krieg führen ließ. „Sie haben Namen, Anschrift und Gesicht“ schrieb damals Bertolt Brecht. Sie haben dies auch heute noch.

Auch wenn sie kaum in der Öffentlichkeit in Erscheinung treten, wenn sie angestellte Manager ihre Geschäfte erledigen lassen, wenn ihr eigenes Kapital längst nicht mehr ausreicht, um es auf immer höherer Stufenleiter wieder entsprechend profitträchtig vermehren zu können: einige wenige Familien besitzen über Aktienpakete an ihren Konzernen, über die Verflechtungen dieser Konzerne mit anderen Konzernen und Banken weit über die Grenzen dieses Landes hinaus, letztendlich viel mehr, als nur einen Konzern. In dem Buch „Wem gehört die Republik?“ von Rüdiger Liedtke beschreibt dieser ca. 100 Konzerne und Banken mit ihren Verzweigungen und Verflechtungen. Der Gruppe von Menschen, die maßgeblich an diesen Banken und Konzernen beteiligt sind, den Milliardären, gehört diese Republik. Finanzoligarchie nannte Lenin diesen kleinen Teil der Bourgeoisie, diese personifizierte Verflechtung von Industrie- und Bankkapital. Ihre Manager sind zwar angestellt, aber alles andere als lohnabhängig. Wenn sie nicht bereits aus der Bourgeoisie kommen, also auf dem sanften Ruhekissen vorhandenen Reichtums geboren wurden, sondern sich vom Kleinbürgertum oder vereinzelt gar aus der Arbeiterklasse hochgedient haben[12], werden sie spätestens mit ihrem Gehalt und ihrer Stellung zur Bourgeoisie: anläßlich der Fusion von Daimler-Benz mit Chrysler bewegte die Süddeutsche Zeitung die Frage, ob deutsche Manager mit ihrem Jahresgehältern in einstelliger Millionenhöhe gegenüber ihren US-amerikanischen Kollegen, die teilweise zweistellige Millionenbeträge erhalten, nicht zu sehr benachteiligt sind. Ob so oder so: es bleibt ihnen auch bei luxuriösem Lebenstil genug über, um spätestens nach ein paar Jahren dieser Beschäftigung einen Teil ihres Geldes in Kapital verwandeln zu können. Sie handeln und denken als Bourgeois, die für die Geschicke riesiger Konzerne verantwortlich sind.

Ein solcher Manager, Norbert Walter, Chefökonom der Deutschen Bank, schrieb in seinem Buch „Der neue Wohlstand der Nation“ folgendes: „...Eine solche Politik zwingt dazu, Gruppeninteressen zu enttäuschen. Sie impliziert eine Politik der Konflikte. Wie eine solche Politik in einer Demokratie mit Volksparteien, die meist nur mit knappen Mehrheiten der jeweils Regierenden ausgestattet sind, realisiert werden kann, ist nur schwer auszumachen. Ob die bisherige Unzufriedenheit mit dem Konjunktursteuerer Staat, dem Strukturkonservator Staat und dem Sozialstaat ausreicht, um Härte gegen viele Gruppen gesellschaftspolitisch erträglich zu machen, bleibt trotz engagierter Reden gegen die hohe Staatsverschuldung abzuwarten.“[13]

Im Interesse welcher Klasse wohl Herr Stoiber seinen aufgeklärten Patriotismus entwickelt?

Und es gibt sie doch - auch in Westdeutschland

Woher kommt nun dieser Reichtum, wer hat ihn geschaffen und erhält und vermehrt ihn ständig? Es schaut so aus, als würde Kapital, ist es erstmal in genügender Größe vorhanden, sich selbst vermehren. Wäre dem so, es wäre unerklärlich, warum die Kapitalisten den Streik am liebsten verbieten würden (oder, wie es in einer noch vorhandenen Demokratie heißt, wenn die Gewerkschaften auf ihr Streikrecht verzichten würden). Der gesamte Reichtum, der sich in den Händen der Kapitalisten konzentriert - in Form von Maschinen und Fabriken, in Form von Waren, die sie verkaufen oder in Form von Geldvermögen - ist von Generationen der Arbeiterklasse erarbeitet worden.[14] Fragt man, wem dieser Reichtum gehört und denkt man sich dabei einmal kurz alle bürgerlichen Gesetze und Gewalten, die sie durchsetzen, als nicht vorhanden, dann gehört kein Quentchen dieses Reichtums den Kapitalisten. Das, was diese als Erbe in die Wiege gelegt bekommen haben, haben die Großväter und -mütter der jetzigen Arbeiterinnen und Arbeiter geschaffen, die ihren Kindern nichts außer ein paar private Habseligkeiten und vielleicht ein Sparkonto vererben konnten. Das, was die Kapitalisten täglich an zusätzlichem Reichtum anhäufen, erarbeiten die Enkel, die dafür unter Umständen schon morgen erwerbslos sind. Sie alle, Großväter, Mütter, Kinder, gerade erwerbslos oder in Stellung, gleich welcher Nationalität oder Staatsangehörigkeit, verbindet die „Eigenschaft“, nichts anderes zu besitzen als ihre Arbeitskraft. Und diese wiederum hat die wunderbare Gabe, mehr Wert schaffen zu können, als sie selbst an Wert besitzt, was nichts anderes bedeutet, als daß die Arbeiterin bei BMW in einem Bruchteil ihres Arbeitstages den Gegenwert an Autoteilen produziert, den sie als Lohn bekommt. Der Rest gehört erst einmal BMW bzw. den Besitzern von BMW, z.B. den Mehrheitseignern, der Familie Quandt.

Daran hat sich also grundsätzlich nichts geändert seit dem Beginn der kapitalistischen Produktionsweise.

Doch was bedeutet die Tatsache, daß immer weniger Arbeiter oder Angestellte in der Produktion arbeiten und immer mehr im Bereich von Handel, Banken, Versicherungen und sogenannten Dienstleistungen beschäftigt sind. Gehören die dort Beschäftigten, die Schreibkräfte, die Sachbearbeiter, die Verkäufer, die Bankangestellten, gehören die denn zur Arbeiterklasse?

Es ist zunächst sowohl Ausdruck der Größe des Reichtums, des Grades der Entwicklung der Produktivkräfte in diesem Land, wie auch Ausdruck ungeheurer Ausbeutung und der Fäulnis dieses Systems, daß inzwischen mehr Lohnarbeiter in diesen Bereichen beschäftigt sind, als in der Produktion von Gütern aller Art. Ausdruck des Reichtums und der Höhe der Entwicklung der Produktivkräfte insofern, als gesellschaftlich gesehen immer weniger Arbeit darauf verwandt werden muß, die notwendigen Lebens- und Produktionsmittel herzustellen und immer mehr Zeit bleibt, sich mit anderen nützlichen und schönen Dingen zu beschäftigen. In den engen Fesseln der privaten Aneignung des Reichtums bedeutet dies jedoch zum einen, daß es sich für die Kapitalisten nicht mehr lohnt, die Produktion von Lebens-oder Produktionsmitteln zu erweitern, da die Absatzmärkte begrenzt sind. Es bedeutet Massenerwerbslosigkeit, während die Kapitalisten alles versuchen, um die Ausbeutung der beschäftigten Arbeiter noch zu steigern. Es bedeutet die Jagd des Kapitals um den Globus und den immer schärferen Kampf um die Absatzmärkte, um die Ausbeutung und Unterwerfung der abhängigen Völker, deren Elend dadurch stetig zunimmt.

Zum anderen heißt das, daß ein wachsender Teil des Reichtums, der von den Arbeitern in der Industrie geschaffen wird, nur dafür ausgegeben wird, die Waren loszukriegen, Gewinne zu sichern und zu vergrößern, bei Bedarf schnell an zusätzliches Kapital zu kommen. Dazu kaufen sich die Kapitalisten entsprechende „Dienstleistungen“ ein: das Leihen von Kapital, Versicherungen, Werbung in ungeheurem Ausmaß, den Verkauf ihrer Waren, Unternehmensberatungen, Steuerberatungen, und und und... Man muß sich immer wieder einmal vorstellen, was das konkret bedeutet: ohne daß vorher Schrauben, Computer, Brot, Häuser, Fahrzeuge, Maschinen... produziert worden sind oder - ausgedrückt in den Kategorien abstrakten Reichtums, der alleine für die Kapitalisten zählt - ohne daß Wert und damit Mehrwert in großem Ausmaß geschaffen worden ist, gibt es keine „Dienstleistungen“. Denn die Kapitalisten müssen den Einkauf dieser Dienste von dem Mehrwert, den sie aus den Arbeitern in der Industrie herausgepreßt haben, bezahlen, sie geben also einen Teil davon an andere Kapitalisten ab. Diese bezahlen davon nicht nur die Löhne der Werbetexter, Verkäuferinnen, Bankangestellten..., sondern erzielen auch noch Profit. (s. dazu Kasten)

Die grundsätzliche Lage der von diesen Kapitalisten ausgebeuteten Kolleginnen und Kollegen unterscheidet sich allerdings nicht wesentlich von der ihrer Klassengenossen in den Fabriken.

Wie unterschiedlich auch die konkreten Arbeitsbedingungen sein mögen, wie sehr die Bourgeoisie alles tut, um einheitliche Regelungen zu umgehen oder sie zu zerstören, um der Arbeiterklasse den gemeinsamen Kampf zu erschweren und sie noch besser ausbeuten zu können: das alles ändert nichts daran, daß es eine Klasse gibt, der gemeinsam ist, daß „sie nichts zu verlieren hat, als ihre Ketten“.

Woher kommt der Profit der Kapitalisten im nicht-produzierenden Bereich?

Marx beschäftigte sich in seinem Werk ganz wesentlich auch mit dem Verhältnis der in den verschiedenen Bereichen tätigen Kapitalisten untereinander, der Gemeinsamkeit, wie auch der Unterschiede, wie sie zu ihrem Profit gelangen.

Im folgenden Zitat aus „Politische Ökonomie - Lehrbuch I“ wird dieses Verhältnis kurz am Beispiel industrielles Kapital -Handelskapital dargestellt. Wir meinen, daß dies insofern übertragbar ist auch auf Kapitalisten in anderen Bereichen sog. Dienstleistungen (wie z.B. Unternehmensberatungsfirmen), als die letztendliche Quelle ihres Profits der in der Industrie geschaffene Mehrwert ist, sie ihren Anteil an diesem Mehrwert aber nur realisieren können durch die Ausbeutung der von ihnen beschäftigten Arbeiter.

„Das Handelskapital fungiert in der Zirkulationssphäre, in der kein Mehrwert erzeugt wird. Woraus aber entspringt der Profit des Kaufmanns? Würde der industrielle Kapitalist seine Ware selbst realisieren, müßte er einen Teil seines Kapitals zur Einrichtung von Handelsgebäuden, zur Bezahlung von Kommis und für andere Handelskosten verwenden. Er müßte deshalb das vorgeschossene Kapital vergrößern oder, bei gleicher Höhe des vorgeschossenen Kapitals, den Umfang der Produktion verringern. In dem einen wie im anderen Falle würde sich sein Profit verringern. Der Industrielle zieht es daher vor, seine Ware einem Mittelsmann, dem Handelskapitalisten, zu verkaufen, der die Ware bis zum Konsumenten weiterleitet. Da die Realisierung der Waren dem Kaufmann überlassen wird, beschleunigt der industrielle Kapitalist den Umschlag seines Kapitals, und die Verkürzung der Umschlagszeit führt zur Erhöhung des Profits. Deshalb kann der Industrielle einen Teil seines Profits mit Vorteil für sich dem Kaufmann abtreten. Der Industrielle verkauft dem Kaufmann die Ware zu einem Preis, der unter ihrem Produktionspreis liegt. Der Handelskapitalist, der die Ware an den Konsumenten zum Produktionspreis verkauft, erzielt dabei einen Profit. Der kommerzielle Profit ist der Teil des Mehrwerts, den der Industrielle dem Kaufmann für die Realisierung seiner Waren abtritt.

Die Arbeit der mit der Realisierung der Waren, das heißt mit der Verwandlung der Waren in Geld und von Geld in Waren, beschäftigten Lohnarbeiter schafft weder Wert noch Mehrwert, doch sie ermöglicht dem Handelskapitalisten, sich einen Teil des in der Produktion geschaffenen Mehrwerts anzueignen. ,Wie die unbezahlte Arbeit des Arbeiters dem produktiven Kapital direkt Mehrwert, schafft die unbezahlte Arbeit der kommerziellen Lohnarbeiter dem Handelskapital einen Anteil an jenem Mehrwert.’ (Karl Marx, „Das Kapital“, Dritter Band, S.325) So wie die mit der Warenherstellung beschäftigten Arbeiter von den Industriellen, werden die kommerziellen Lohnarbeiter von den Handelskapitalisten ausgebeutet.“

(Akademie der Wissenschaften der UDSSR: „Politische Ökonomie, Lehrbuch I“, Berlin 1955, Nachdruck Frankfurt/M 1971, S.190)

Doch ist sie noch revolutionär?

Ob eine Klasse in „einem geschichtlich bestimmten System der gesellschaftlichen Produktion“ dem Untergang geweiht ist oder ob sie die Zukunft in sich trägt, hängt nicht davon ab, ob die Mitglieder dieser Klasse mit Klugheit, Weitsicht und revolutionärer Entschlossenheit geboren worden sind. Das zu glauben, wäre Idealismus in Reinstform, mit dem man nichts bewegen, sondern nur an den heutigen Verhältnissen verzweifeln könnte. Als Marx und Engels im Kommunistischen Manifest schrieben: „Aber die Bourgeoisie hat nicht nur die Waffen geschmiedet, die ihr den Tod bringen; sie hat auch die Männer gezeugt, die diese Waffen führen werden - die modernen Arbeiter, die Proletarier“[15], da hatten sie eine Klasse vor sich,

über die Marx an anderer Stelle sagte: „Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol, d.h. auf der Seite der Klasse, die ihr eigenes Produkt als Kapital produziert.“[16] Die Waffen, die die Bougeoisie gegen sich selbst schmiedet und ständig weiter schmieden muß, sind die Produktivkräfte, die in immer krasseren Widerspruch zu den Produktionsverhältnissen, also der bürgerlchen Gesellschaft mit ihren Eigentumsverhältnissen geraten. Die Auswirkungen erleben wir heute tagtäglich und in allen gesellschaftlichen Bereichen: Massenerwerbslosigkeit, Raubbau an Mensch und Natur, Krisen, in denen die Wirtschaft ganzer Länder zusammenbricht, Kämpfe um Rohstoffquellen und Absatzgebiete, in denen kriegerische Auseinandersetzungen zwischen den imperialistischen Staaten mehr als erahnbar werden, Nationalismus und Rassismus (unvollständige Aufzählung).

Die Männer und Frauen, die Arbeiterklasse, die durch ihren Kampf dem ein Ende setzen kann, indem sie die bürgerlichen Produktionsverhältnisse überwindet und Produktionsverhältnisse schafft, in denen der gesellschaftlich produzierte Reichtum auch gesellschaftlich angeeignet wird, gibt es auch.

Das ist heute in Westdeutschland tatsächlich schwer vorstellbar. Die Arbeiterklasse hier hat in diesem Jahrhundert hauptsächlich Niederlagen erlitten: 1914, als die Führer der Sozialdemokratie die Arbeiterklasse in den Krieg der Imperialisten mitverwickelte; 1918 die verlorene Revolution; 1933, indem Faschismus und Krieg nicht verhindert werden konnten, viele der Führer der Arbeiterklasse ermordet wurden, die Klasse individualisiert wurde und so Arbeiter in die faschistischen Verbrechen ihrer Herren mit hineingezogen worden sind; 1945-1949, als es nicht gelang, ein einheitliches, antifaschistisches Deutschland zu schaffen; 1949-1989, aufgrund des besonderen weltweiten Kräfteverhältnisses sowohl zwischen der internationalen Arbeiterklasse und der Bourgeoisie, wie auch der imperialistischen Staaten untereinander und des Aufschwungs nach den ungeheuren Zerstörungen durch den Krieg, eine ungewöhnlich lange Phase imperialistischer Stabilität, in der sich sozialdemokratisches und antikommunistisches Denken tief in der Arbeiterklasse verwurzeln konnte; und schließlich hat diese Tatsache nicht unwesentlich zur Niederlage von 1989 beigetragen. Das alles ist es wohl, was wir im Kopf haben müssen, wollen wir den Zustand der Arbeiterklasse in Westdeutschland erklären, ihre Desorganisiertheit, ihr Zurückgeworfensein auf einzelne Konkurrenten untereinander und gegenüber der Arbeiterklasse in anderen Ländern, so daß auch Rassismus und Nationalismus Einzug halten können. Das ändert nichts daran, daß die Arbeiterklasse nach jeder, oft viel grausameren Niederlage wieder begonnen hat, sich von neuem zu organisieren und daß die Bourgeoisie auch heute hier in Westdeutschland der Arbeiterklasse die Waffen schmiedet, sie zwingt, sich im Kampf zu vereinigen. Eine Garantie, daß dies gelingt, bevor der Deutsche Imperialismus wieder Faschismus und Krieg auf die Tagesordnung setzt, gibt es nicht und gab es nie. Gerade deshalb hat der Kollege aus der ÖTV, der, wie viele andere, das Grundsatzprogramm des DGB heftig kritisierte, so recht: „Nicht knechten und bitten - dafür mutig gestritten!“

Zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse: das Kleinbürgertum

Nun trennt kein Streifen Niemandsland die beiden Hauptklassen voneinander, sondern es gibt eine Masse an Menschen, die weder zur Bourgeoisie gehören, noch zur Arbeiterklasse, sondern zwischen diesen Klassen stehen: das Kleinbürgertum. Dieses Kleinbürgertum existiert in vielfältiger Gestalt:

Zum einen gehören dazu kleine Warenproduzenten oder -besitzer, wie kleine Händler, Handwerker oder Bauern. Diese Schicht wurde im Verlauf der kapitalistischen Entwicklung durch die Monopolbourgeoisie stark reduziert.

Zum anderen hat sich aber mit dem Übergang des Kapitalismus der freien Konkurrenz zum monopolistischen Kapitalismus und dessen Entwicklung bis heute der Verwaltungsapparat sowohl innerhalb der großen Konzerne ungeheuer ausgedehnt, wie auch das gesamte Banken-, Versicherungs- und Handelswesen rapide angewachsen ist. Zudem hat sich der Staatsapparat enorm aufgebläht. Dadurch entstand ein großer Bedarf an Angestellten oder Beamten mit mehr oder weniger untergeordneten Aufgaben in Bereichen wie Planung, Buchführung, Kontrolle, die aufgrund ihrer Stellung ebenfalls zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse stehen.

Außerdem wurde in den Zeiten relativer Vollbeschäftigung aufgrund voller Sozialversicherungskassen der gesamte Gesundheitsbereich nicht nur zum profitträchtigen Geschäft der Pharmakonzerne, sondern auch zu einer lukrativen Einnahmequelle für eine Reihe von niedergelassenen Ärzten, Krankengymnasten, Psychotherapeuten, Apothekern usw. Sie alle zählen ebenso wie die in den letzten Jahren aus dem Boden geschossenen, selbständigen Softwarehersteller, Supervisoren, aber auch wie die kleinen Anwaltskanzleien, Steuerberater etc. zum Kleinbürgertum.

Mit der Entwicklung der Monopole und ihrer Extraprofite hat sich eine zwar sehr kleine, aber aufgrund ihrer Rolle innerhalb der Arbeiterbewegung wichtige Schicht gebildet: Arbeiter in besonderen Funktionen, die die Bourgeoisie extra geschaffen hat (z.B. Sitze in den Aufsichtsräten großer Konzerne), die mit hohen finanziellen Zuwendungen und/oder anderen Privilegien an die Monopolbourgeoisie gebunden werden - die Arbeiteraristokratie.[17]

Ihre besondere Stellung zwischen Monopolbourgeoisie und Arbeiterklasse findet ihren politischen Ausdruck z.B. in DGB-Grundsatzprogrammen, in denen die Haltung der Klassenversöhnung so weit gediehen ist, daß es praktisch keine Klassen mehr gibt.

Die Lage der Kleinbürger, so unterschiedlich sie konkret auch ist, ist dadurch gekennzeichent, daß sie sich aufgrund ihrer Stellung und Funktion, ihrer Selbständigkeit oder ihres Besitzes, aufgrund der Tatsache, daß sie selbst teilweise Arbeitskraft ausbeuten, einerseits zur Bourgeoisie hingezogen fühlen. Andererseits ist ihre Existenz unsicher. Als Angestellte laufen sie Gefahr, den „Schlankheitskuren“ von Konzernen und Staat zum Opfer zu fallen. Als Selbständige oder Kleinstunternehmer sind sie stets vom Ruin bedroht. In beiden Fällen stürzen sie in die Arbeiterklasse, was heute ganz konkret oft bedeutet, daß sie sich in die Schlangen der Erwerbslosen einreihen müssen. Oder aber sie fallen völlig aus dem Erwerbsleben heraus und vergrößern die Schicht der Deklassierten, einer Schicht, die politisch unberechenbar ist und für alle möglichen Zwecke benutzt werden kann.

Obwohl sich das Kleinbürgertum im wesentlichen aus sich selbst heraus speist, trennt weder eine Mauer das Kleinbürgertum von der Bourgeoisie, noch eine von der Arbeiterklasse, deren Mitglieder übrigens auch oft die hauptsächlichen Kunden der Kleinbürger sind. Auch die Übergänge sind fließend, so daß eine Abgrenzung – wann gehört jemand noch zum Kleinbürgertum, wann schon zur Bourgeoisie bzw. wann ist jemand noch Arbeiter in der äußerlichen Form eines Angestellten, wann ist er Kleinbürger – oft sehr schwierig ist.

Entsprechend unterschiedlich und schwankend sind die politischen Strömungen innerhalb des Kleinbürgertums: einerseits kann sich die offene Reaktion auf kleinere oder größere Teile des Kleinbürgertums stützen, bis dahin, daß die Massenbasis des Hitlerfaschismus große Teile des Kleinbürgertums waren. Andererseits vertreten Teile demokratisch fortschrittliche Positionen, wie sie bei den Grünen oder der SPD zu finden sind. Einzelne gehen ganz auf die Seite der Arbeiterklasse über.

Es kann der Arbeiterklasse nicht gleichgültig sein, ob die Bourgeoisie große Teile dieser Zwischenschichten dauerhaft auf ihre Seite ziehen kann, die zahlenmäßig eine in mehrere Millionen gehende Größe in dieser Gesellschaft einnimmt, oder ob diese der Arbeiterklasse und ihre Zielen zumindest neutral bis bestenfalls wohlwollend gegenüberstehen. Mehr wird die Arbeiterklasse nicht erreichen können in ihrem Kampf um eine Zukunft ohne Ausbeutung. Doch dieses wenige muß sie erreichen.

Der Weg dorthin allerdings wird in diesem Land, so wie die Dinge heute stehen, verbunden sein müssen mit dem Kampf gegen Faschismus und Barbarei. In diesem Kampf kann die Arbeiterklasse Westdeutschlands, im Bündnis mit der Arbeiterklasse in der DDR, nur siegen, wenn sie schon heute gegen rassistische Gesetze und Übergriffe, gegen den Abbau der Demokratie, das Bündnis mit den demokratischen Teilen des Kleinbürgertums sucht und sie so vorbereitet, was schneller als wir denken notwendig werden kann: die Volksfront. Die CDU/CSU hetzt vorsichtshalber heute schon dagegen.

Arbeitsgruppe „Klassenanalyse“

1 Leicht abgeändertes Zitat von Kaiser Wilhelm, 1914. Tatsächlich sagte er: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.“ Damals verstand man jedoch die Sozialdemokratie als Partei der Arbeiterklasse.

2 Aus einer Zuschrift eines Personalratsvorsitzenden an die Zeitschrift des DGB „Die Quelle“, in der dieser den Entwurf für das DGB-Grundsatzprogramm 96 kritisiert. In: „Die Quelle“, November 1996

3 Mehrwert ist der Wert, den die Arbeiter z.B. an einem Tag über das hinaus erarbeiten, was ihre Arbeitskraft wert ist, was sie also an Lebensmitteln brauchen, um ihre Arbeitskraft immer wieder erhalten, reproduzieren zu können. Der konkrete Preis ihrer Arbeitskraft ist der Lohn. Sinkt der Lohn oder wird der Arbeitstag verlängert oder die Arbeit intensiviert, dann steigt der Mehrwert.

4 Diskussionsbeitrag zum außerordentlichen DGB-Kongress November 96 von Manfred Horn, Gesamtbetriebsratsvorsitzender der Maschinenfabrik Müller-Weingarten AG, aus: „Die Quelle“ November 96, S.6

5 Karl Marx: „Lohn, Preis, Profit“ in MEW Bd.16, S.151

6 Karl Marx/ Friedrich Engels: „Manifest der Kommunistichen Partei“ in MEW Bd.4, S.471

7 DGB-Grundsatzprogramm 1996, S.7

8 SZ vom 17/18.10.98

9 Lenin: „Die große Initiative“, Lenin Werke Bd.29, S.410

10 Karl Marx/Friedrich Engels: „Manifest der Kommunistichen Partei“, MEW Bd.4, S.463

11 siehe dazu Karl Marx, „Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie“, MEW Bd.42, S.590-609

12 So hat sich z.B. Herr Neukirchen, Sanierer bei der Metallgesellschaft, vorher Vorstandsvorsitzender von KHD, aus einer Arbeiterfamilie hochgedient.

13 zit.nach einer Rede von Sahra Wagenknecht „Kommunistisches Manifest oder neokeynesianische Sozialreform?“, abgedruckt in: Weißenseer Blätter 1/1998, S.56

14 Die Frage, daß dieser Reichtum teilweise auch aus der Arbeiterklasse in anderen Ländern bzw. aus den Werktätigen unterdrückter Völker herausgepreßt worden ist, wird in den Artikeln „Wer hat meine Jeans genäht?“ und „Was hat das verschüttete Klassenbewußtsein der Arbeiter hier mit der Ausplünderung der armen Länder zu tun?“ behandelt. Klar ist jedoch, daß auch diese Tatsache aufzeigt, daß die westdeutsche Arbeiterklasse Teil der internationalen Arbeiterklasse ist und dies auch immer mit berücksichtigt werden muß.

15 Karl Marx/Friedrich Engels: „Manifest der Kommunistischen Partei“, a.a.O, S.468

16 Karl Marx: „Das Kapital“ MEW Bd.23, S.675

17 Über die Frage, ob diese Schicht eine kleinbürgerliche ist oder ob sie der Arbeiterklasse zuzuordnen ist, konnte im Redaktionskollektiv keine Einigkeit erzielt werden. Lenin schrieb im Vorwort zu „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ über die Arbeiteraristokratie: „Diese Schicht der verbürgerten Arbeiter oder der ,Arbeiteraristokratie’, in ihrer Lebensweise, nach ihrem Einkommen, durch ihre ganze Weltanschauung vollkommen verspießert, ist die Hauptstütze der II. Internationale und in unseren Tagen die soziale (nicht militärische) Hauptstütze der Bourgeoisie. Denn sie sind wirkliche Agenten der Bourgeoisie innerhalb der Arbeiterbewegung..., wirkliche Schrittmacher des Reformismus und Chauvinismus. Im Bürgerkrieg zwischen Proletariat und Bourgeoisie stellen sie sich in nicht geringer Zahl unweigerlich auf die Seite der Bourgeoisie, auf die Seite der ,Versailler’ gegen die ,Kommunarden’.“ (Lenin-Werke Bd. 22, S.198) Keinesfalls erlaubt ist es, die Arbeiteraristokratie mit den von ihr beeinflußten Arbeitern zu verwechseln oder jeden Arbeiter, der aufgrund seiner weiterreichenden Ausbildung besser entlohnt wird, ihr zuzuschlagen.

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