Für Dialektik in Organisationsfragen
Zur Diskussion über die Anwendung des Massenstreiks gehört ein kurzer Blick in seine Entwicklungsgeschichte. In der internationalen Arbeiterbewegung geht sie zurück ins 19. Jahrhundert. So machten die Fabrikarbeiter Nordenglands im Verlauf der darüber in der „Chartistenbewegung“[*] aufgekommenen Frage, der ‚Arbeitseinstellung auf nationaler Ebene’, 1842 einen ersten Versuch damit (Engels, „Lage der arbeitenden Klasse“, 2. Auflage, S. 234). In Deutschland ist der Weber-Aufstand von 1844 in die Geschichte der Klassenkämpfe eingegangen. Unerträgliche Arbeitsbedingungen, bis 15-stündige Arbeitszeiten, erbärmliche Löhne und Unternehmerschikanen, waren in den Jahren 1896 und 1897 in Russland der Anlass für Generalstreiks der Petersburger Textilarbeiter, der Spinner und Weber. Hierbei setzten die Textilarbeiter die gesetzliche Einführung des elfeinhalbstündigen Arbeitstages für ganz Russland durch.
Aufgrund von Anträgen aus der französischen Arbeiterbewegung kam es in den Jahren 1900 in Paris und 1904 in Amsterdam zu Kongressen der Sozialisten, die sich mit der Frage des Massenstreiks befassten. In Amsterdam wurde dabei in einer Resolution beschlossen, in bestimmten Situationen, besonders bei Anschlägen der reaktionären Kräfte auf das allgemeine Wahlrecht, Massen- oder Generalstreiks in Erwägung zu ziehen. Massenstreiks in Belgien 1902, Schweden 1902, Holland 1903 und Italien 1904 hielten die Diskussion darüber in Gang. Den Hauptanteil an seiner Entwicklung zum Kampfmittel der Arbeiterklasse haben jedoch die bis zu bewaffneten Aufständen gehenden Massenstreiks der russischen Arbeiter bei den Kämpfen in der russischen Revolution von 1905 bis1907:
„Sie hat zum ersten Mal in der Geschichte der Klassenkämpfe eine grandiose Verwirklichung der Idee des Massenstreiks und – wie wir unten näher ausführen werden – selbst des Generalstreiks gezeitigt und damit eine neue Epoche in der Entwicklung der Arbeiterbewegung eröffnet.”
Ausgehend vom o. g. großen Ausstand der Petersburger Textilarbeiter 1896 hatte sich ein intensiver gewerkschaftlicher Kampf im ganzen übrigen Land entwickelt. Große Massenstreiks im März 1902 in Batum im Kaukasus, 1903 und 1904 halten Südrussland in Bewegung. Aufgrund der Massenarbeitslosigkeit bricht im Dezember 1904 in Baku ein großer Generalstreik aus. „Die Arbeiterklasse ist wieder auf dem Kampfplatz. Als das Reden verboten wurde und verstummte, begann wieder das Handeln. In Baku herrschte während einiger Wochen mitten im Generalstreik die Sozialdemokratie als unumschränkte Herrin der Lage,...“ charakterisierte Rosa Luxemburg die Situation.
Der Solidaritätsstreik der gesamten Belegschaft von12.000 Arbeitern der Putilow-Werke am 16. Januar 1905, für zwei wegen legaler Vereinszugehörigkeit entlassener Kollegen, war Ausgangspunkt einer breiten Streikbewegung. Innerhalb weniger Tage hatte sich die Zahl der Streikenden Arbeiter auf 140 Tausend erhöht. Die russische Sozialdemokratie nutzte die Bewegung, um die Forderung der Arbeiter nach Wiedereinstellung der Entlassenen zu ergänzen. Am 22. Januar 1905 zogen angeführt von dem Priester Gapon 200.000 Arbeiter mit der Forderung nach dem gesetzlichen Achtstundentag, dem Koalitionsrecht, der Rede- und Pressefreiheit u. a. vor den Petersburger Zarenpalast. Der Zar ließ unter den friedlich Demonstrierenden ein Blutbad anrichten. Über Tausend Arbeiter, Frauen und Kinder werden vor dem Zarenschloss ermordet.
„Die zunächst darauf folgenden Ereignisse sind bekannt: Das Petersburger Blutbad hat im Januar und Februar in sämtlichen Industriezentren und Städten Russlands, Polens, Litauens, der baltischen Provinzen, des Kaukasus, Sibiriens, vom Norden bis zum Süden, vom Westen bis zum Osten riesenhafte Massenstreiks und Generalstreiks hervorgerufen. Allein bei näherem Zusehen treten jetzt die Massenstreiks in anderen Formen auf als in der bisherigen Periode. Diesmal gingen überall die sozialdemokratischen Organisationen mit Aufrufen voran.“
Zur gleichen Zeit, als die deutschen Arbeiter sich noch mit dem „Generalstreikverbot“ ihrer opportunistischen Gewerkschaftsführer herumschlugen, erkämpften sich die polnischen und russischen Arbeiter durch seine Anwendung in vielen Fabriken den Neun- oder Acht-Stundentag.
Nach einem Streik der gesamten Branche (vom 27. Februar bis 11. März 1905) setzen die polnischen Maurer den Neunstundentag, eine Lohnerhöhung für alle, regelmäßige wöchentliche Lohnauszahlung u. a. durch.
„Die Anstreicher, Stellmacher, Sattler und Schmiede errangen gemeinsam den Achtstundentag ohne Lohnverkürzung. Die Telephon-Werkstätten streikten zehn Tage und errangen den Achtstundentag und eine Lohnerhöhung um 10 bis 15 Prozent. Die große Leinenweberei Hielle & Dietrich (10.000 Arbeiter) errang nach Neun Wochen Streik eine Verkürzung der Arbeitszeit um eine Stunde und eine Lohnaufbesserung um 5 bis 10 Prozent. Und dasselbe Ergebnis in unendlichen Variationen sehen wir in allen übrigen Branchen Warschaus, in Lodz, in Sosnowitz. Im eigentlichen Russland wurde der Achtstundentag erobert: im Dezember 1904 von einigen Kategorien der Naphtaarbeiter in Baku, im Mai 1905 von den Zuckerarbeitern des Kiewer Rayons, im Januar 1905 in sämtlichen Buchdruckereien der Stadt Samara (wo zugleich eine Erhöhung der Akkordlöhne und Abschaffung der Strafen durchgesetzt wurde), im Februar in der Fabrik kriegsmedizinischer Instrumente, in einer Möbeltischlerei und in der Patronenfabrik in Petersburg, ferner wurde eine achtstündige Schicht in den Gruben von Wladiwostok eingeführt, im März in der staatlichen mechanischen Werkstatt der Staatspapiere ... Heute lässt die tatsächliche Arbeitszeit in der russischen Industrie nicht nur die russische Fabrikgesetzgebung, das heißt den gesetzlichen elfeinhalbstündigen Arbeitstag sondern selbst die deutschen tatsächlichen Verhältnisse hinter sich. In den meisten Branchen der russischen Großindustrie herrscht heute der Zehnstundentag, der in Deutschland von der Sozialgesetzgebung als unerreichbares Ziel hingestellt wird. Ja, noch mehr; jener ersehnte ‚industrielle Konstitutionalismus’, für den man in Deutschland schwärmt und um deswillen die Anhänger der opportunistischen Taktik jedes schärfere Lüftchen von den stehenden Gewässern des allein-seligmachenden Parlamentarismus fernhalten möchten, wird in Russland gerade mitten im Revolutionssturm, aus der Revolution, zusammen mit dem politischen ‚Konstitutionalismus’ geboren!“
Mit ihren beispielhaften Kämpfen widerlegte die russische Arbeiterklasse die bis dahin vielfach in der internationalen Arbeiterbewegung vertretene Meinung: „Generalstreiks sind nur möglich bei einer vollständigen Organisation der Arbeiterklasse und vollen Kassen ihrer Organisationen.“
„Der Massenstreik ist jetzt zum Mittelpunkt des lebhaften Interesses der deutschen und der internationalen Arbeiterschaft geworden, weil er eine neue Kampfform und als solche das sichere Symptom eines tiefgehenden inneren Umschwunges in den Klassenverhältnissen und den Bedingungen des Klassenkampfs bedeutet. Er zeugt von dem gesunden revolutionären Instinkt und der lebhaften Intelligenz der deutschen Proletariermasse, dass sie sich – ungeachtet des hartnäckigen Widerstandes ihrer Gewerkschaftsführer – mit so warmem Interesse dem neuen Problem zuwendet. Allein diesem Interesse, dem edlen intellektuellen Durst und revolutionären Tatendrang der Arbeiter kann man nicht dadurch entsprechen, dass man sie mit abstrakter Hirngymnastik über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Massenstreiks traktiert, sondern dadurch, dass man ihnen die Entwicklung der russischen Revolution, die internationale Bedeutung dieser Revolution, die Verschärfung der Klassengegensätze in Westeuropa, die weiteren politischen Perspektiven des Klassenkampfes in Deutschland, die Rolle und die Aufgaben der Masse in den kommenden Kämpfen klarmacht. Nur in dieser Form wird die Diskussion über den Massenstreik dazu führen, den geistigen Horizont des Proletariats zu erweitern, sein Klassenbewusstsein zu schärfen, seine Denkweise zu vertiefen und seine Tatkraft zu stählen.“
(Informationen aus Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung Bd. 1, Dietz Verlag Berlin 1966 sowie aus Rosa Luxemburg, Politische Schriften I, Schrift: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1975, kursiv gestellte Aussagen sind wörtlich übernommen)
Arbeitsgruppe „Stellung des Arbeiters in der Gesellschaft heute“
* Chartismus: Revolutionäre Bewegung der englischen Arbeiter von 1837/38-1850, die ein die Volksrechte festlegendes Grundgesetz (Charte), vor allem das allgemeine, gleiche u. geheime Wahlrecht forderte; „die erste breit angelegte, tatsächliche Massenbewegung, einer politisch begründeten proletarisch-revolutionären Bewegung“ (Lenin), Aus: Wilhelm Liebknechts Volksfremdwörterbuch, Berlin 1953
Arbeiter verlassen die Putilow-Werke in Petrograd nach der Proklamation des Generalstreiks im Februar 1917
Revolutionäre Soldaten inPetrograd im Februar 1917 (auf der Fahne die Aufschrift: Nieder mit der Monarchie!)