Für Dialektik in Organisationsfragen
Detlef Hensche, bis 2001 Vorsitzender der IG Medien und seitdem als Rechtsanwalt in Berlin tätig, hat der These von der Rechtswidrigkeit politischer Streiks widersprochen. Wir dokumentieren ein Interview aus der Zeitschrift SoZ (gekürzt).
Was ist ein politischer Streik und inwiefern gilt er in der heutigen BRD als rechtswidrig?
Als politischer Streik gilt die Arbeitsniederlegung zur Verfolgung und Durchsetzung politischer Ziele, bzw. vorsichtiger und gleichzeitig realistischer ausgedrückt, zur Bekundung politischen Willens, dessen Adressat der Gesetzgeber oder politische Instanzen sind, nicht dagegen der Arbeitgeber oder der Arbeitgeberverband. Wenn die Streikforderung von Arbeitgebern bzw. Arbeitgeberverbänden zu erfüllen ist, wenn also sie die Adressaten sind, handelt es sich um eine Auseinandersetzung zumeist tarifpolitischer Natur. Soweit der Streik gegen Gesetzgeber, Regierungen und andere politische Instanzen gerichtet ist, handelt es sich nach dieser üblichen juristischen Unterscheidung um einen politischen Streik. Letzterer gilt in der Bundesrepublik, ich sage nur in der Bundesrepublik, im Unterschied zum Ausland als rechtswidrig. Das ist in meinen Augen ein vordemokratisches Rechtsverständnis.
Warum vordemokratisch?
Es gehört zur politischen Auseinandersetzung einer offenen Gesellschaft, dass diejenigen, die im Wesentlichen nur von ihrer Arbeitskraft leben und als solche in wirtschaftlich und sozial abhängiger Stellung sind, das einzige Druckmittel, das sie haben, nämlich die kollektive Arbeitseinstellung, auch einsetzen können müssen, um ihren politischen Willen zum Ausdruck zu bringen. Das gehört zu einer lebendigen offenen Gesellschaft. Gesetzgeber und andere öffentliche Instanzen bewegen sich ja nicht im luftleeren Raum, sie sind vielfältigem Druck und vielfältiger Einflussnahme ausgesetzt. Und diese Einflussnahme steigt in dem Maße, in dem man in der Gesellschaft auch Druckpotenzial ausüben kann.
Wer bspw. über Investitionen und Arbeitsplätze, über Standortentscheidungen verfügen kann, hat ein fast unendliches Druckpotenzial in der Hand, um Gemeinden, Länder, selbst die Bundesregierung in die Knie zu zwingen. Wirtschaftspolitik ist vielfach Standortpolitik. Wer dagegen nur seine Arbeitskraft hat, hat, außer dass er hin und wieder mal einen Leserbrief schreiben kann und alle vier Jahre sein Kreuzchen machen darf, kein weiteres Druckmittel außer der kollektiven Arbeitseinstellung. Sich am Wochenende hörbar in Demonstrationen Luft zu machen ist ja kein Druckmittel, sondern mehr eine Frage der Willens- und Meinungsäußerung.
Das Druckmittel wäre in der Tat die Arbeitseinstellung und erst auf diese Weise würde, wenn man so will, die Chance einer Machtbalance hergestellt zu denen, die ohnehin kraft Eigentums an den Produktionsmitteln und kraft Investitionsentscheidungen auch vorrangig Einfluss auf die politische Willensbekundung nehmen können.
Wir haben es hierbei auch mit einer Frage der Grundrechte zu tun. Wer andere für sich arbeiten lässt, hat deren Grundfreiheiten, auch die zur kollektiven Gegenwehr und Meinungsäußerung während der Arbeitszeit hinzunehmen. Mit anderen Worten: mit dem Arbeitsvertrag entäußert sich der Arbeitnehmer nicht seiner Grundrechte, schon gar nicht derer, die sich gerade auf die soziale Situation der abhängig Beschäftigten beziehen.
Im restlichen Europa, du hast es angesprochen, ist die Rechtslage eine andere. Woher kommt dieser deutsche Sonderweg?
Der hat sich, und das ist interessant, erst in den 50er Jahren herausgeschält. Auslöser war damals ein Zeitungsstreik anlässlich der dritten Lesung des Betriebsverfassungsgesetzes von 1952, zu dem die IG Druck & Papier aufgerufen hatte. Dieser 48-stündige Zeitungsstreik wurde als politischer Streik gebrandmarkt – das war er ja dem Sinne nach auch, keine Frage –, und außer dem Landesarbeitsgericht Berlin haben alle anderen angerufenen Landesarbeitsgerichte diesen Streik für illegal erklärt. Das hat sich dann später, in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, fortgesetzt.
Wenn man in der Geschichte zurückblickt, kann man bis zum Anfang der 50er Jahre, also bis in die 20er Jahre, ich lasse mal den Faschismus außen vor, eine durchaus gleichgerichtete Entwicklung in allen europäischen Ländern feststellen. Im 19.Jahrhundert, um jetzt nicht noch weiter zurückzugreifen, kämpften die Arbeiter und Arbeiterorganisationen u.a. und vorrangig um das Recht auf kollektive Arbeitseinstellung, also um das Streikrecht. Schrittweise und in unterschiedlichen Etappen wurde dieses Streikrecht durchgesetzt, bis es in der Weimarer Verfassung zwar nicht dem Wortlaut, wohl aber dem Wortsinne nach erlaubt war. Das so erkämpfte Streikrecht galt in Frankreich, Italien, England oder Deutschland, wo auch immer, als ein unbegrenztes Streikrecht, das auch politische Forderungen rechtfertigte. Das war in den 20er Jahren auch in Deutschland unstreitig. Erst der erwähnte Streik von 1952 hat erneut ein Staatsverständnis zum Vorschein kommen lassen, das in meinen Augen vordemokratisch und Ausdruck eines neutralen Obrigkeitsstaatsdenkens ist.
Die Rollenverteilung zwischen Tarifpolitik und staatlicher Sozialpolitik ist ja nicht eindeutig zu bestimmen. Wenn der Gesetzgeber die Finanzierung des Krankengeldes ausschließlich den Arbeitnehmern aufbürdet, greift er in die Einkommensverteilung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ein, ebenso gravierend und unmittelbar wie ein Lohntarifvertrag. Aller Voraussicht nach wird die materielle, soziale und berufliche Lage der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer je länger, je mehr von Akten der staatlichen Politik geprägt sein, womöglich nachhaltiger als durch Tarifverträge.
Seit dem Streik von 1952 gilt der politische Streik als unerlaubte Einflussnahme auf die Organe der parlamentarischen Demokratie. Doch was kann man diesem eingespielten Richterrecht entgegensetzen? Auf welche juristischen Grundlagen könnte sich ein politischer Demonstrationsstreik auch bei uns berufen?
(...) Alles das, was den politischen Streik in der Bundesrepublik einschränkt oder für illegal erklärt, ist nur das Produkt von Gerichtsentscheidungen.
Jenseits der nationalen Ebene gibt es das Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), die kraft Völkerrecht auch in der Bundesrepublik ebenso zu beachten sind wie die europäische Menschenrechts- und Sozialrechts-Charta. Beide sehen ein Streikrecht ohne die bundesdeutschen Eingrenzungen vor. Der Sachverständigenausschuss dieser Internationalen Arbeitsorganisation hat die deutsche Praxis sogar wiederholt gerügt.
Die von dir vorgetragene Interpretation ist in der öffentlichen Diskussion nicht gerade Konsens. Auch in Gewerkschaftskreisen scheint hier die Defensive vorzuherrschen, wenn es darum geht, dieses Recht einzuklagen.
Einklagen ist schwer. Es ist wie in der Vergangenheit: Rechte schafft man, indem man sie sich nimmt.
(...)
Solche Fragen, die zuvörderst Machtfragen sind, legt man nicht in die Hände von Juristen. Es sei denn, man wird dazu gezwungen.
aus: SoZ – Sozialistische Zeitung,
März 2004, Seite 5
Detlef Hensche