Für Dialektik in Organisationsfragen
Die Geschichte der Arbeiterbewegung ist voll von diesen Beispielen und den Versuchen, sie zu vertuschen, zu verharmlosen, zu entstellen, die Täter zu Opfern und die Opfer zu Tätern zu machen. Im DGB-Newsletter Einblick vom 15. Januar 2020 wird über ein solches Beispiel berichtet. Anlass dafür ist das „Betriebsrätegesetz“– beschlossen vor hundert Jahren, am 4. Februar 1920. Offensichtlich ist es zumindest den für die Inhalte des DGB Newsletter Redaktionsverantwortlichen wichtig, etwas zu seiner Vorgeschichte zu veröffentlichen. Ein Ereignis, was mit aufs Konto der im vergangenen Jahr von den rechten Gewerkschaftsführern gefeierten 100 Jahre „Sozialpartnerschaft“ geht. Es wird weder in Vorworten der gewerkschaftlichen noch sonstigen Ausgaben des heutigen BetrVG-Betriebsverfassungsgesetzes erwähnt noch gehört es zum selbstverständlichen Allgemeinwissen von Betriebsräten und in den Gewerkschaften. Möglicherweise will der DGB dem etwas Abhilfe verschaffen, in dem er den Historiker Axel Weipert im o.g. Newsletter zu Wort kommen lässt (nachfolgend kursiv einige Auszüge). Der schreibt dazu unter der Überschrift:
„Am 13 Januar vor 100 Jahren schossen Sicherheitskräfte friedliche Demonstranten gegen das Betriebsrätegesetz zusammen. 42 Menschen starben, Hunderte wurden verletzt.“
Tatort war der damalige Königsplatz vor dem Reichtagsgebäude (heute Platz der Republik), in dem die 2. Lesung des Betriebsrätegesetzes stattfand. Weit über Hunderttausend Arbeiterinnen und Arbeiter waren dem Aufruf der USPD, der KPD, der Berliner Gewerkschaftskommission und der Betriebsrätezentrale gefolgt (Bericht/Artikel KAZ 368 S. 16 ff.). Sie hatten streikend Fabriken, Handwerksbetriebe, Kraftwerke, Eisen- und Straßenbahnen verlassen, um gegen den Inhalt des Betriebsrätegesetzes zu protestieren. Wie vom damaligen sozialdemokratischen Innenminister Heine, ja, selbst dem zuständigen Polizeikommandanten und anderen Augenzeugen bestätigt, standen sie hierbei der Sicherheitspolizei nur 4 bis 5 Meter gegenüber. „Die Sicherheitspolizei war eine kasernierte Truppe zur Aufstandsbekämpfung, die mit schweren Waffen ausgerüstet war. Sie rekrutierte sich vornehmlich aus rechtsradikalen Freikorps (als Mörderbanden Noskes gingen sie in die Geschichtsschreibung der Arbeiterbewegung ein, d. Verf.). Viele ihrer Mitglieder machten dann später in SA und Gestapo Karriere.“
Nach Erteilung des Schießbefehles schoss die Sicherheitspolizei mit Maschinengewehren und Karabinern aus der Entfernung von 5 Meter in die Menge und schmiss zusätzlich auch noch Handgranaten auf die Demonstranten. Die Verantwortung für die „Aufstandsbekämpfung“ der Arbeiter gegen das Betriebsrätegesetz trug der damalige Kriegs- bzw. Reichswehrminister Gustav Noske von der SPD. Die war abgesehen von Noske und hunderten Beamten mit Friedrich Ebert, dem ersten Reichspräsidenten, mit Innen- und Arbeitsminister sowie mit dem Reichskanzler Gustav Bauer an der Reichsregierung beteiligt. Zu ihm heißt es bei Historiker Weipert: „Reichskanzler Gustav Bauer behauptete am Folgetag, der Gewalteinsatz habe einen unmittelbar bevorstehenden Sturm auf das Reichstagsgebäude und damit ein Massaker an den Abgeordneten verhindert. Wenig später beschloss das Parlament deshalb eine immer noch in ähnlicher Weise geltende Regelung, wonach im Bannkreis (bekannt als „Bannmeile“ d. Verf.) um Verfassungsorgane nur unter strengen Auflagen demonstriert werden darf. Tatsächlich war eine Stürmung des Gebäudes aber weder geplant noch versucht worden. Vielmehr hatte die Sicherheitspolizei auf unbewaffnete Demonstranten geschossen.“
Wie oben bereits erwähnt, hat der Reichstag bzw. wie es korrekt heißt, „die verfassungsgebende Nationalversammlung“ das Betriebsrätegesetz am 4. Februar 1920 beschlossen. Mit seinem hundertjährigen Jubiläum am 4. Februar 2020 ist es der Vorläufer des heutigen BetrVG-Betriebsverfassungsgesetz. In dem Zusammenhang nachfolgend § 66 aus dem Betriebsrätegesetz.
„Der Betriebsrat hat die Aufgabe: in Betrieben mit wirtschaftlichen Zwecken die Betriebsleitung durch Rat zu unterstützen, um dadurch mit ihr für einen möglichst hohen Stand und für möglichste Wirtschaftlichkeit der Betriebsleistungen zu sorgen; in Betrieben mit wirtschaftlichen Zwecken an der Einführung neuer Arbeitsmethoden fördernd mitzuarbeiten; den Betrieb vor Erschütterungen zu bewahren ...“
Wie daraus hervorgeht, sollten die Betriebsräte damit gegen ihren Willen gesetzlich gezwungen werden, mit der für den 1. Weltkrieg verantwortlichen und verbrecherischen Kapitalistenklasse zusammenzuarbeiten. Was hierbei mit Waffengewalt gegen die Arbeiterklasse durchgesetzt wurde, liefert die IGM-Führung dem Kapital, den „Betrieben mit wirtschaftlichen Zwecken“ heute (nicht erst seit heute) mehr oder weniger frei Haus. Hierbei lässt sie das kapitalistische Ausbeutungssystem, unsere Lohnarbeit, die Ausbeutung unserer Arbeitskraft in den Betrieben einschließlich evtl. Gedanken an den Kampf für Sozialismus, für die Abschaffung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen hinter – vornehm ausgedrückt – hirnverwirrenden Bergen von Transformations- und sonstigen Gestaltungsaufgaben verschwinden. So wurde auf dem Gewerkschaftstag Okt. 2019 mit der Entschließung E1, „Die IG Metall vom Betrieb ausdenken“ (woher sonst) den Delegierten ein „Szenario“ um die Ohren geschlagen und beschlossen. Unter vielem anderen heißt es darin: „In den großen Konzernen gestalten wir auf der Grundlage starker Handlungsmacht auf zentraler Ebene mit und vereinbaren Rahmenregelungen, die vor Ort im Betrieb wiederum ausgestaltet und umgesetzt werden können ...“ Und an anderer Stelle wird ausgesagt: „Wir gehen die Herausforderungen von dem an, was die Menschen im Betrieb bewegt. Dabei nutzen wir die Stärke und die Macht der gesamten Organisation und Kompetenz. Wir arbeiten aufgabenorientiert und denken nicht in einer Hierarchie von Organisations-, sondern von Kompetenzebenen. Uns gelingt es, die steigende Komplexität der Anforderungen in den Betrieben zu managen. Unsere Branchenarbeit nimmt wirkungsvoll Einfluss auf die Politik und ist Plattform für branchenbezogene Ansätze der Transformations-, Arbeits- und Technikgestaltung (...) Aus diesem Grund bieten wir sowohl unseren ehrenamtlichen betrieblichen als auch hauptamtlichen Kolleginnen und Kollegen, die unmittelbar für die Arbeit in den Betrieben zuständig sind, an, sich als Veränderungspromotoren für den Beteiligungs- und Veränderungsprozess in den Betrieben ausbilden zu lassen.“
Wenn das nichts ist, was da beschlossen wurde? Das passt wie „Faust aufs Auge“ zum Inhalt des oben zitierten Paragraphen 66: „an der Einführung neuer Arbeitsmethoden“ usw. usw. „fördernd mitzuarbeiten;“ Hierbei liefert die IGM-Führung den Kapitalisten geradezu eine Vorlage zur Änderung der Betriebsverfassung, bei der die sich die Kosten für Unternehmensberater und Schulungen gleich mit sparen können. Aber das ist nicht das Schlimmste. Mit diesem ganzen Geschwurbel von „Veränderungspromotoren“ usw. wird Betriebsräten und Belegschaften eine Gehirnwäsche verpasst. Hierbei werden sie jahrelang („Veränderungsprozess“ bis Gewerkschaftstag 2023) mit Kapitalismusgestaltung beschäftigt und bewusst von den eigentlichen gewerkschaftlichen Kampfaufgaben, wie u. a. der Durchsetzung der 35-Stunden-Woche im Osten abgehalten. Es hilft nichts – den „Veränderungsprozess“ und die Ausreden der opportunistischen Gewerkschaftsführer zurückzudrängen und „Macht“, „Stärke“ und „Kompetenz“ der Organisation darauf zu konzentrieren und dafür die IGM zu mobilisieren, können nur die betroffenen Betriebsräte und Belegschaften in Ost und West.
Ludwig Jost
Am 13. Januar 1920 schossen Sicherheitskräfte friedliche Demonstranten zusammen: 42 Menschen starben, Hunderte wurden verletzt!