Für Dialektik in Organisationsfragen
Der große Saal des Hofbräuhauses in München ist bis auf den letzten Platz besetzt. Es brodelt an allen Tischen: der Abschluss von ver.di mit der Telekom stößt auf heftige Ablehnung. Als die Streikleitung das Wort ergreift, gellen die ersten Pfiffe durch den Saal. Eine halbe Stunde lang kämpft sie gegen das Pfeifkonzert an. Sie behauptet, das Ergebnis werde in den Medien schlecht geredet. Schließlich hebt der bayerische Fachbereichsleiter und Mitglied der Großen Tarifkommission zu einem langatmigen Vortrag an. Wieso trotz Lohnabbau von 6,5% die Gehälter gesichert seien, kann er nicht schlüssig erklären. Als er von kommenden Tarifrunden mit Lohnabschlüssen von 5% schwadroniert, kommt Hohngelächter auf. Er gesteht, er habe die 70 Seiten der Vereinbarung vor der Abstimmung nicht gelesen. Er habe der Verhandlungskommission vertraut.
Drei Stunden später sind die Kollegen rund geredet. Statt Wut und Empörung zeigen die Gesichter nur noch Resignation. Kritiker werden vom Podium aus massiv angegriffen, zum Teil niedergeschrieen und als Spalter bezeichnet. Dann wieder heucheln die ver.di-Funktionäre Verständnis für die Enttäuschung der Kollegen. Es ist ein sozialdemokratisches Meisterstück, das die Gewerkschaftsvertreter in verteilten Rollen von der Bühne des Hofbräuhauses aus aufführen. Am Ende haben die Opportunisten[1] der verdi-Führung gesiegt: Die verheerende Niederlage ist klein geredet, den Kollegen ist eingeredet worden, dass mehr nicht drin war. Die Ursachen werden nicht diskutiert. So ist das Ergebnis der Urabstimmung mit 72,6% eine gute Woche später nicht mehr überraschend.
Das sinkende Einkommen ist die Hauptkritik der Kollegen[2]; die unentgeltliche Arbeitszeitverlängerung von 34 auf 38 Stunden, d.h. vier Stunden Arbeit ohne Lohnzahlung (unbezahlte Mehrarbeit), nehmen sie hin. Aber sie wissen, dass auch dies eine indirekte Lohnkürzung von fast 12% ist und die Arbeitslosigkeit durch Verlängerung der Arbeitszeit steigen wird. Hierbei tut ihnen der Samstag als Regelarbeitszeit sehr weh. Die sinkenden Einstiegsgehälter für die Neueingestellten um 30% bis 2010 sind für die meisten noch kein Thema – die drohende Spaltung der Belegschaft wird erst von wenigen wahrgenommen. Es wird aber spätestens in 5 Jahren ein Thema sein, wenn der bis dahin tarifvertraglich vereinbarte Kündigungsschutz wegfällt. Und der Ausgründungsverzicht gilt gar nur bis Ende 2010. Vielleicht beginnt der nächste Kampf aber schon früher. Wir wissen, dass das Kapital sich nicht an Abmachungen hält, wenn der Profit nicht stimmt. Die Telekom kann zufrieden sein, sie hat ihre Ziele erreicht. Bestärkt in ihrem Vorgehen, peilt sie jetzt 19 Milliarden Profit an!
Der Streik scheiterte nicht an den Kollegen: die Kampfbereitschaft war hoch, es gab viele phantasievolle Aktionen vor Ort. (Allerdings wäre es gut gewesen, wenn die Streikposten offensiver gegen Streikbrecher vorgegangen wären, d.h. sie zum „Kriechgang“ gezwungen oder sie ganz allgemein mehr behindert hätten.)Auch die Öffentlichkeit stand mehrheitlich auf Seite der Streikenden.
Der Streik scheiterte am Legalismus[3] der Gewerkschaftsführung und vor allem daran, dass sie die Telekom nicht wirklich in Bedrängnis bringen, d.h. das Kapital nicht angreifen wollte. Denn dann hätte sie die Großkunden massiver behindern, Bereiche wie Netzmanagement und T-Systems einbeziehen müssen. Es hieß, diese Bereiche seien nicht direkt betroffen – aber sie werden die nächsten sein. Bei T-Systems geht’s bereits los: Telekom-Chef Obermann plant die Auslagerung von bis zu 18.000 Beschäftigten. Weiter wurden die Beamten außen vor gelassen. Wann, wenn nicht in dieser Situation, wäre die ideale Gelegenheit gewesen, den schon lange anvisierten Beamtenstreik durchzusetzen? Ausgeschlossen wurde die Möglichkeit, dass die Kollegen kollektiv, vom Betriebsrat organisiert, dem Betriebsübergang in die neuen Gesellschaften nach § 613a BGB widersprechen, ein Mittel, das schon in andern Branchen erfolgreich durchgeführt wurde. Bei 15.000 bis 20.000 Widersprüchen wäre die Ausgliederung nach Ansicht von Juristen geplatzt.
Schnell wurden alle Ansätze, die Regierung anzugreifen, wieder nieder gebügelt. Die Regierung hätte als größter Telekom-Aktionär deren krassen Sparkurs zu Fall bringen können. Eine Bestreikung des G-8-Gipfels wäre z.B. ein politisches Signal gewesen. Natürlich wäre in diesem Fall die Bundeswehr eingesprungen – aber die Stoßrichtung gegen die Bundesregierung hätte die Schlagzeilen beherrscht. Selbst die geplante Demo in Berlin wurde wieder abgesetzt. Die SPD-Führung hat ihre Mitglieder in der Gewerkschaftszentrale in diesem Fachbereich von ver.di noch gut im Griff.
Die Führungsclique hat noch nicht mal ernsthaft angepeilt, die andern Fachbereiche von ver.di zu Solidaritätsaktionen zu mobilisieren. Das Bundesarbeitsgericht hat inzwischen Solidaritätsstreiks für rechtlich zulässig erklärt, das Problem ist kein rechtliches. Sondern ver.di hatte nie den Willen, das Versprechen, mit der sie angetreten ist – die Integration der fünf Gründungsgewerkschaften – auch umzusetzen. Umso weniger war von den andern Gewerkschaften Unterstützung zu erwarten, obwohl klar ist, dass die Niederlage nicht nur Folgen für die Branche und andere Dienstleistungsbereiche, sondern auch für den industriellen Bereich haben wird. Lohnsenkungen bei gleichzeitiger Verlängerung der Arbeitszeit ohne Lohnzahlung werden weiter zunehmen.
Sicher ist es absolut nötig und richtig, den Generalstreik zu fordern. Aber die Argumentation mancher streikender Kollegen, das Kapital sei eben zu stark gewesen und nur gewerkschaftsübergreifende Solidaritätsaktionen, gar ein Generalstreik, hätten ein gutes Ergebnis bringen können, ist in diesem Fall eine Ausrede. Man kann nicht über die Stärke des Gegners reden, wenn man nicht bereit ist – wie die ver.di-Führung – selber alle möglichen Mittel auszuschöpfen, seine eigene Stärke zu mobilisieren.
Schon Mitte Mai, auf dem Höhepunkt des Streiks, schoss der Kurs der Telekom-Aktie um 20% nach oben. Für die Börse war der Ausgang des Streiks bereits damals entschieden. Sie reagierte darauf, dass die zentrale Streikleitung jede Eskalation vermied, dass nirgendwo die Buden stillstanden. Wenn z. B. Siemens oder Großbetriebe der Autoindustrie lahm gelegt worden wären, dann hätte es allerdings breiter Solidarität der IG Metall und anderer Gewerkschaften bedurft, um diese Strategie durchzuhalten. Dann wäre es ein gesamtgesellschaftlicher Konflikt geworden, dann hätte ein Soli-Streik anderer Gewerkschaften und damit ein politischer Streik zur Debatte gestanden. Die Grundlage dafür aber hätte die Ausschöpfung aller Kampfmöglichkeiten bei der Telekom sein müssen. Dies passt jedoch nicht in das Konzept der ver.di-Führung von Standortdenken und Klassenzusammenarbeit.
Auf dem Gewerkschaftstag muss ihr Verhalten scharf kritisiert werden. Als Konsequenz aus dem Verhalten des ver.di Vorstands, wird es Aufgabe des Gewerkschaftstages sein, über die o. g. Kampfformen einschließlich des Massen- bzw. Generalstreiks zu diskutieren und entsprechende Festlegungen zu treffen. Das ist eine notwendige Voraussetzung dafür, um den ständigen Angriffen des Kapitals mit unserer Einheit, Solidarität und der Kampfbereitschaft aller Einzelgewerkschaften entgegenzutreten und Alleingängen des Vorstandes Grenzen zu setzen.
Das wird aber nur passieren bei entsprechenden Beschlüssen und Handeln der „Basis“.
Nur wenn aktive und kampfbereite Kolleginnen und Kollegen verschiedener Standorte mit einer gemeinsamen Handlungsalternative antreten, kann das Vorgehen der Gewerkschaftsführung in Zukunft durchkreuzt werden. Diese Einheit zu schaffen, ist eine unserer dringlichsten Aufgaben.
Arbeitsgruppe „Stellung des Arbeiters
in der Gesellschaft heute“
1 Opportunismus in der Arbeiterbewegung: Ausdruck der bürgerlichen Politik in der Arbeiterklasse, Politik der Anpassung und Unterordnung unter die Interessen der Bourgeoisie, gegen die Interessen des Proletariats
2 Die Absenkung der Löhne um 6,5% bis 2010 soll für die bisherige Belegschaft erst durch einen Ausgleichsfonds, dann über – noch zu erkämpfende Tariferhöhungen – verhindert werden. Aber natürlich heißt das auch, dass es keinen Inflationsausgleich gibt.
3 Legalismus: starres Ausrichten an den bestehenden bürgerlichen Gesetzen und Rechtsnormen, auch wenn andere Kampfformen erforderlich sind, wie z.B. konkret Beamtenstreik, Blockaden, Stilllegung ganzer Firmen etc.