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Für Dialektik in Organisationsfragen

Ringo Ehlert, ein Beitrag im Namen von Unentdecktes Land e.V.

Eine Stellungnahme zu 30 Jahren Annexion der DDR ...

... ist schwierig und hier nicht zu leisten, das haben andere weitaus besser getan, als ich es je könnte. Jüngst hat es der Autor Matthias Krauß mit seinem Büchlein „Die große Freiheit ist es nicht geworden“ dahingehend zu einer Meisterleistung gebracht.

Als die Grenze geöffnet wurde und der bis dahin zähfließende, langsame Zerfall der DDR in einen reißenden Wasserfall mündete, war ich 11 Jahre alt. Die intakten sozialen Gegebenheiten um mich herum verwandelten sich nun im Takt von Monaten in ein Ruinenfeld. Was ich davon noch weiß, begrenzt sich auf eine kindliche Faszination für das Durchstreifen riesiger stillgelegter Industrieanlagen unserer Stadt, das Randalieren in ihren leerstehenden Kultur- und Betriebsverwaltungsbauten. Ein Endzeitspielplatz, auf dem alles uns zu gehören schien, und wir nicht ahnten, dass dies tatsächlich alles einst unseren Eltern gehörte. Für uns war es ein Abenteuer, unter einem Himmel, in dem dunklen Wolken aufzogen. Alles sollte sich verändern.

Die Arbeitsstätten der Eltern kamen ins Wanken und immer öfter kamen die Gespräche der Erwachsenen über Miete, Stromkosten, Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit zum Stehen. Neue Abkürzungen standen auf Türen, in Zeitungen, auf Wahlplakaten: DM, CDU, PDS, ABM, Stasi usw. Die Büchereien und Schulen häuften vor ihren Türen auf den Bürgersteigen Bücher über Bücher, Landkarten mit den Nachkriegsgrenzen und der großen rot gemalten Sowjetunion – hingeworfen für die Sperrmüllberäumung. Alle dachten, dass das schon gut gehen wird, nur ein chaotisches Zwischenstück zu einem einfach anderen aber mindestens genauso guten Leben. Wir dachten genauso und schauten mit großen Augen in die Zukunft. Warum sollten wir Kinder was anderes denken und anderes reden als das allabendliche Fernsehprogramm. Und das sendete leuchtende Bilder hinaus zu uns, und die westdeutschen Handelsketten glitzernde Verpackungen in die Regale der Kaufhallen. Und kein Werbeblödsinn darauf war zu groß, als dass wir nicht drauf reingefallen wären. Der Postbote klingelte zwei- oder dreimal pro Tag und brachte Berge von Glasperlen in unsere Buden. Wie die Indianer hingen wir sie uns an den Hals, die Großen tanzen um ein goldenes Kalb namens DMark. Neckermann und Quelle war unser Regenbogen zu dem Topf Gold an seinem Ende, das im Westen lag. Der Tanz war aus, als die Poliklinik meiner Mutter schloss und der letzte Job meines Vaters das Abreißen seines eigenen Metallbetriebes wurde.

Wir können uns unsere Mütter nicht aussuchen, ich hatte also großes Glück. Sie war die prägendste Figur für mich, und Antifaschistin durch ihren Vater. Der zog damals mit der Wehrmacht in die Sowjetunion und geriet zum Glück nur in Gefangenschaft, wo er das Denken probierte und wiederkehrte als Kommunist. So wie er wurde, wurde seine Tochter, auch ohne Mitgliedschaft in der SED.

Eines ihrer pädagogischen Glanzstücke, unvergesslich: Eines samstags abends rief sie uns in die Wohnstube vor den Fernseher, es lief der amerikanische Film „Das Urteil von Nürnberg“ mit Spencer Tracy auf DDR1, ein uralter schwarzweißer Streifen über eine Geschichte im Schatten der Nürnberger Prozesse kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Als im Gerichtssaal in Anwesenheit der Täter und Opfer des deutschen Faschismus die schrecklichen Original-Filmaufnahmen von Auschwitz gezeigt wurden, saßen wir Kinder vor der Glotze. Aus dem Hintergrund sagte meine Mutter: „Seht euch das an und wählt die Seite, auf der ihr steht“. Der Ausspruch vom „besseren Deutschland“, den hörte ich das erste Mal von ihr, sie war eine Begleiterin des Projektes DDR, kritisch und doch treu. Man kann zu ihrer Erziehung stehen wir man will, aber sie machte mich zu dem, der ich heute bin.

Meine Mutter begriff schnell, dass mit dem Ende des Gesundheitswesens der DDR ein Gesundheitswesen, das diesen Namen verdient, in deutschen Landen unmöglich wurde. Was jetzt kam, war ein chaotisches Kaufhaus, indem der Hilfe bekam, der sie sich leisten konnte. So begann der Weg der Renate Ehlert von Umschulung zu Umschulung, letztlich weg von zu Haus und zuletzt zu sowas wie einer Hilfsverkäuferin. Ein demütigender Abstieg für die einstige Medizinisch-technische Laborassistentin aus Leidenschaft. Sie ging auch deswegen weg, dahin wo es Arbeit gab, in den Westen. Sie hat nie wieder davon geredet, dass sie nun Arbeit hat, es war immer nur ein Job, eine Arbeit hatte sie in der DDR. Die Jahrzehnte in einer westdeutschen fremden Stadt brachten meiner Mutter Ernüchterung und keinen Freundeskreis, sie blieb Wirtschaftsflüchtling, solang sie lebte.

Meine Schwester blieb im Osten. Den Ausbildungsplatz zur Zahnarzthelferin, für den sie ihren Zweierabschluss in der Schule schwer erkämpft hatte, hat sie natürlich nicht bekommen. Ausbildungsstellen gerieten jetzt zur Mangelware, mitten in all dem Überfluss des neuen Konsums. Und es schien nichts mehr wichtig. Alles wurde infrage gestellt. Ein Wertesystem versank in Gleichgültigkeit. Die Dinge, zu denen die jungen Leute der Generation meiner Schwester aufblicken sollten, sollte man jetzt gefälligst mit Füßen treten. Die Thälmanns und Lenins verschwanden von den Straßenschildern, ihre Bildnisse aus den Parks und von den Sockeln vor den Rathäusern. Das „Rotarmisten-Mahnmal“, gleich neben unserem Rathaus mit seinen verblichenen Sternen auf den Grabsteinen, räumte man über Nacht in den letzten Winkel des Städtchens, zu den anderen Toten auf den Stadtfriedhof.

Meine Schwester, die FDJlerin, redete davon nie. Ich ahne heute in jedem ihrer kurzen kargen Sätze, dass damals was zerbrochen ist in ihr. In den Wirren des Umbruchs fand sie dann eine Lehrstelle als Kellnerin, die sie dann wegen dieser und jener Insolvenz dieses oder jenes Gasthauses oder Kneipe auch noch mehrmals unterbrach. Es begann der Weg der Ina Ehlert und er führte sie in Kreise, die ihr nicht guttaten. Die Kneipen waren Treffpunkte der Bundeswehrsoldaten, die jetzt die Kasernen der NVA übernahmen.

Die Glücksritter und rauen Kerle der Stadt, Alkohol und neue harte Sprüche gegen die „Fidschis“ und „Polacken“ gabs hier und die Bösen Onkels machten den Sound dazu. Ein hartes Terrain, in dem man Wolf unter Wölfen sein muss. Die „Wende“ erwischte meine Schwester mitten in einer Zeit, in der sich junge Menschen ohnehin in einen Wald voll mit Weggabelungen begeben. In dieser Zeit sind die Leitplanken eines Weltbildes, das Gut und Böse scheidet, und Vorbilder immens wichtig. Es bedarf ihrer auch, um sich an ihnen in Kritik zu üben. In diesen zerbrechlichen Vorgang des Erwachsenwerdens schlug die Annexion der DDR wie eine Granate ein, ein Sprengsatz in den Lebenslauf von hunderttausenden heranreifenden jungen Menschen. Was diese Zerstörung mit der Generation meiner Schwester angestellt hat, es wird Forschungsgebiet bleiben.

Ich bin kein Forscher, doch heute kenne ich nur wenige Menschen, die so hart zu sich selbst sind wie meine Schwester. Sie lebt heute verbittert in ihrem Dorf, schlägt sich mit einem kleinen Imbiss durch wie eine Löwin. Wir reden schon wegen unserer unüberbrückbaren politischen Widersprüche nicht oft, aber wenn, dann immer und lieber über früher. Meine Schwester, so viele, vielleicht eine ganze Generation, haben abgeschlossen mit Dingen wie Herzlichkeit und Mitleid mit anderen (schon gar nicht Fremden gegenüber). Was ist das für ein gesellschaftliches System, das sowas hervorbringt in den Leuten?

Der weitere Weg meines Vaters war schon kurz nach der Wende klar vorgezeichnet. Die Arbeitslosigkeit, die er seinen Lebtag nicht mehr los wurde, schlug ihn aus der Bahn, wie so viele, die vor allem durch ihre Arbeit leuchteten und weniger durch ihr Privatleben. Aus Frust wurde Stille, aus Stille wurde Desinteresse und Verbitterung. Wozu er sich noch aufraffen konnte, war das Trinken. Wir haben deshalb oft gestritten.

Dass er auf die DDR und sein Leben darin nie was hat kommen lassen, war sein letzter roter Faden. Als Sohn einer Großbauernfamilie, in der man lernt, dass zuerst die eigene Speisekammer kommt und dann der Rest, hatte er seine Lebensreise begonnen. Aus diesem Muff, in dem jeder Bauer war und jeder Bauernsohn wieder Bauer wurde, bot die DDR die Chance, auf- und vor allem ausbrechen. Er wurde Industriebauarbeiter und Reisender von Großbaustelle zu Großbaustelle der Republik. Mein Vater sah jeden Winkel der kleinen, großen Welt DDR und er lebte für seine „Spur der Steine“, die er in diesen Osten schlug. Und es war dieser Osten, der ihm zeigte, dass Solidarität siegt, und die die besten Bauern sind, die gemeinsam die Republik ernähren. Das brachte ihn auf gegen den Trott in seiner Bauernfamilie. Mitglied in der Patenschaftsbrigade für das Kinderheim und der Solibeitrag für Vietnam und Angola waren selbstverständlich. Ebenso sein Einsatz in der Betriebskampfgruppe. Wofür die wirklich kämpfte, verstand er erst wirklich, nachdem sie aufgelöst wurde.

Selbst am Palast der Republik hatte der mitgebaut, wie er immer stolz erzählte. Aber wenn er erzählte – zu oft war er angetrunken – nahm eines immer einen besonderen Platz in den Erzählungen ein: seine Zeit beim Bau der Erdgastrasse „Druschba“. Es war das große Ding seines Lebens. Und die „Russen solle man mal in Ruhe lassen!“. Er ließ sich den großen Bruder nie zum Feinde stempeln. Auf seinem Nachttisch lag immer irgendein Buch, meistens eines von einem sowjetischen Schriftsteller, meistens eines über den großen vaterländischen Krieg oder die unendlichen Weiten Russlands. Wohl niemand hat den „Stillen Don“ öfter gelesen als er.

Mit der gleichen Geschwindigkeit wie diese Spur der Steine meines Vaters der Deindustrialisierung der annektierten DDR durch den Westen wich, gab er sich auf. Gegen eine Krankheit am Herzen hat er nicht mehr gekämpft. Reinhard Ehlert starb so leise, wie er in seiner großen Zeit laut gelebt hatte.

So hat diese „Wende“, die manche immer noch „Wiedervereinigung“ nennen, meine Familie auf dem Gewissen. Sie hat meine Leute in alle Winde zerstreut und auch mich später aus der Region gejagt, die seit 30 Jahren vor sich hinstirbt. Vielleicht ist es vielen so ähnlich ergangen, vielleicht nicht allen ganz so dramatisch, vielleicht nicht ganz so frustrierend, manchmal vielleicht aber noch schlimmer. Im Ergebnis gingen so viele weg, nicht wenige wurden rechts. Ich wurde ein Linker, es hätte auch anders kommen können, mein Elternhaus hat mich auf dem besseren Weg gehalten. Ein Elternhaus, das so nur in der DDR sein konnte und das nur mit dem Ende der DDR so zerstampft werden konnte.

So zerrt die DDR an mir, wie Wurzeln an einem schiefen Baum. Ich kenne sie aus Büchern und dem Erzählen, Werden, Wachsen und Gehen meiner Eltern oder aus meistens klugen aber auch manchmal nicht so klugen Dingen, die alte Genossen zu mir sagen. Und jeden Tag lerne ich sie neu kennen, auch durch das Wutgeschrei ihrer Feinde. Ich war nicht dabei, als sie aufgebaut wurde, nicht dabei, als sie pulsierte, nicht bewusst dabei, als die Ostdeutschen sie für lau hingaben. Eine Distanz, die manchmal Nachteil, manchmal Vorteil ist.

Mit einer glatten, widerspruchsfreien Idee vom Sozialismus, mit der Fehlerfreiheit des eigenen Ideals von wehenden roten Fahnen, die jeder aus vollen Herzen trägt – damit hat die DDR nicht viel zu tun. Diese überflüssige Romantik stößt sich an ihren Kanten ab, an den beißenden Widersprüchen dieser anderen deutschen Republik. Sie war an vielen Ecken und unterm Teppich, wo der Kehricht landet, alles andere als schön, aber sie war Wichtigeres als schön: Sie war real!

Im Vergleich zu einem naiven Ideal von Sozialismus und Revolution schaut sie dreckig aus Bergen ihrer ungewaschenen Wäsche – diese DDR, wer mag die schon? Im Vergleich jedoch zu dem, mit dem wir uns heute rumschlagen müssen, war sie das mit Abstand Beste und Großartigste, was man in diesem verfluchten Deutschland je auf die Beine gestellt hat. Und ihre Revolution erst, die war überall in ihr, sie war Musik! Ein heißer pulsierender Takt durch jede ihrer Adern bis in die kleinsten Kapillare, selbst noch, als die Leute auf die Straße gingen und ihr Ende einleiteten – wie kann man denn die DDR nicht mögen? Irgendwo zwischen diesen beiden Polen habe ich meinen Frieden gemacht mit der alten Dame. Der Schlüssel dazu ist Wissen.

Eine Stellungnahme zu 30 Jahren Annexion kann meines Erachtens nur zu dem Ergebnis kommen, dass jede linke politischen Betätigung im Osten zum Scheitern verurteilt, bestenfalls ineffektiv ist, wenn sie nicht, bei welchem Thema auch immer, die DDR in Stellung bringt. Sie ist der Dreh- und Angelpunkt der Agitation und Propaganda, nicht nur, aber vor allem in Ostdeutschland. Eine politische Arbeit gegen die DDR oder an ihr vorbei (vielleicht, um sich vermeintlich nicht die Finger zu beschmutzen oder um eine Abkürzung, um einen steinigen langen Aufstieg nehmen zu wollen) ist Selbstzweck, nicht viel mehr. Wenn wir so mit dieser DDR umgehen, dass wir keinen im Osten abholen, dann stehen die Leute nicht falsch, sondern wir.

Die DDR ist ein Anker, der ein wenig in allen Leuten zugleich hängt und Nachdenklichkeit und Freunde bereitet, wenn man daran zerrt. Was für eine Chance! Der Zustand, dass ein linkes Projekt die Millionen bewegt, weil es ein Stück ihres Lebens ausmacht, ist doch so selten wie kostbar. Die ostdeutsche Linke, und noch viel mehr die Westdeutsche, haben das zu spät und größtenteils bis heute nicht verstanden. Unser gemeinsamer Gegner, die offene Reaktion, war schneller, wie so oft.

Wir haben dieses verlorene Gebiet zurückzuerobern, was aussichtslos scheint und in Front zu einem übermächtigen Gegner. Aber so geht uns das ja immer. In den letzten Jahren haben wir unsere Ansprüche korrigieren müssen. Derzeit ist die DDR so unter einem Berg von Irrungen, Wirrungen und Lügen verbuddelt, dass nicht die Frage um die Revolution die nächstliegende ist, sondern der leise Hinweis: „Nu lass doch mal einen Moment von deinem Feindbild Flüchtling, Schwuler, Hartz4-Empfänger ab und erzähl uns mal, wer deinen Betrieb platt gemacht hat oder den deiner Eltern!“

Wenn auch die „Aufarbeitung der DDR“ durch die Sprachrohe des Staates mit einem Palaver von „Unrechtsstaat“ und Stasihatz keinem im Osten mehr so recht hinterm Ofen vorholt, greift doch die Umdeutung der DDR von AfD & Co. umso mehr. Aus der DDR haben diese Leute ein entpolitisiertes, ihrer antifaschistischen Geschichte beraubtes Objekt gemacht, das nur noch den Mumpitz von einem „Früher“ erzählt, wo alles besser war und in Ordnung, ohne Fremde. Denen, die solche Bilder malen, gehört die DDR nicht. Sie sind vom gleichen Stoff, aus dem jene sind, wegen denen die DDR gegründet werden musste. Die DDR gehört uns Linken, wir müssen sie uns zurückholen und ihre Geschichte als das erzählen, was sie ist: eine große antifaschistische Geschichte des Aufbäumens gegen den deutschen Sonderweg von Weltkrieg zu Weltkrieg. Wir müssen sie erzählen als Geschichte einer Gegnerschaft zum deutschen Imperialismus. Neben all dem Lob für ihre sozialen Errungenschaften ist es wichtig zu sagen, dass es nicht die Kernaufgabe der DDR war, dass es den Ostdeutschen gut und besser geht, das ist sekundär. Ihre Kernaufgabe war die Verunmöglichung eines erneuten Griffes zur Weltherrschaft von Siemens, Daimler und Deutscher Bank. Ein Verunmöglichen eines erneuten Auschwitz, eines erneuten Weltkrieges. Welch wichtigere Ziele könnte einem Staat in die Wiege gelegt werden? Was könnte ehrenhafter und gerechter sein, als diese Ziele erreicht zu haben? Unseren Dank an alle, die ihren Anteil daran hatten!

Entnommen aus: „Der Verrat an den Bürgern der DDR“ – Eine politische Bilanz nach 30 Jahren Anschluss, herausgegeben vom Ostdeutschen Kuratorium von Verbänden e.V. (OKV)

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